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Verbraucher*innen bezahlen ihre Lebensmittel einmal an der Ladentheke und ein zweites Mal versteckt und auf Umwegen. Die wahren Kosten stehen nicht auf dem Preisschild.

Einkaufswagen mit Geldscheinen
AdobeStock/Bumann
  • Mehr und mehr Studien zeigen: In Wahrheit sind unsere Lebensmittel viel teurer als das, was auf dem Preisschild steht. Denn wir zahlen sie nicht nur an der Ladentheke, sondern auch durch Gesundheitsschäden und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.
  • Diese unsichtbaren Lebensmittelkosten zahlen wir über Steuern, Abgaben, Krankenkassenbeiträge. Und wir verlagern sie auf die Natur, die Menschen im globalen Süden und auf nachfolgende Generationen.
  • Es ist keine Option, diese versteckten Kosten auf die Lebensmittelpreise aufzuschlagen. Diese Schäden dürfen erst gar nicht entstehen.
  • Bio-Lebensmittel sind langfristig günstiger als konventionell erzeugte, denn sie richten viele Schäden erst gar nicht an und erbringen wertvolle Leistungen zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen. Auch hierzu gibt es immer mehr Forschungsarbeiten.

Wie teuer sind unsere Lebensmittel wirklich?

Im Jahr 2017 lud der britische Sustainable Food Trust zu einem spektakulären Event ein. Geladen waren Vertreter*innen aus Industrie, Wissenschaft, Consultingagenturen und Landwirtschaft. Es ging um die Präsentation des Berichtes „The Hidden Cost of UK Food“ (auf Deutsch: Die verborgenen Kosten der britischen Lebensmittel). Dieser zeigte: Für jedes britische Pfund, das Verbraucherinnen und Verbraucher in Großbritannien für Lebensmittel ausgeben, entsteht ein weiteres Pfund an Folgekosten in Form von Gesundheits- und Umweltschäden.

Das sogenannte „True Cost Accounting“ ist mittlerweile ein etablierter Forschungszweig. Wissenschaftler*innen entwickeln immer bessere Methoden, um die versteckten Folgekosten der Lebensmittelproduktion zu ermitteln. Diese entstehen zum Beispiel für die Aufbereitung von nitratbelastetem Trinkwasser, und das wiederum ist eine Folge der hohen Stickstoffdüngung und der intensiven Tierhaltung. Auch Gesundheitsprobleme durch Stickoxide, Feinstaub und Treibhausgase, Schäden durch Bodenerosion, Lebensmittelabfälle, Antibiotikaresistenzen oder Lebensmittelimporte aus wasserarmen Gebieten gehören zu den negativen und teuren Folgen der industriellen Lebensmittelproduktion.

Welche versteckten Kosten in der britischen Studie ermittelt wurden, zeigt die folgende Tabelle.

Abschätzungen der britischen True-Cost-Studie

Übersicht: Sichtbare und unsichtbare Lebensmittelkosten (Großbritannien)

Millionen Euro*  
138,1 Reale Ausgaben für Lebensmittel in Haushalten und der Außer-Haus-Verpflegung
138,2 Versteckte Kosten von Lebensmittelproduktion und Konsum
Davon  
35,6 Verbrauch von Umweltressourcen
 16,36Treibhausgase und Luftverschmutzung
 13,80Lebensmittelabfälle im gesamten Produktionssystem
 3,69Bodenabbau und Verlust von Kohlenstoff im Boden
 1,71Belastung der Gewässer durch Landwirtschaft
14,7 Verlust der Artenvielfalt durch Intensivierung der Landwirtschaft
51,6 Ernährungsbedingte Gesundheitskosten
  Durch falsche Lebensmittelauswahl, Veränderung des Nährwertes und der Zusammensetzung von Lebensmitteln
 26,4Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs und Karies
 19,5Unterernährung
 4,6Übergewicht und Adipositas
 1,3Bluthochdruck
18,5 Produktionsbedingte Gesundheitskosten
 2,7Lebensmittelbedingte Antibiotikaresistenz
 2,0Lebensmittelvergiftungen und -infektionen
 13,8Auswirkungen von phosphororganischen Pflanzenschutzmitteln
 0,1Darmkrebs durch Nitrat im Trinkwasser
7,3 Landwirtschaftliche Subventionen
 3,9Programme zur Förderung der ländlichen Entwicklung
 3,4Subventionen
 0,1Forschung im Bereich Biowissenschaften
10,6 Lebensmittelimporte
  Zum Beispiel Palmöl oder Obst und Gemüse aus wasserarmen Regionen
 

*Umrechnung von britischen Pfund in Euro, Mai 2018

Quelle:Fitzpatrick and Young (2017): https://sustainablefoodtrust.org/articles/hidden-cost-uk-food/

Das Problem: Der Markt setzt falsche Kaufanreize

Wenn die wahren Kosten nicht auf dem Preisschild stehen, dann scheinen die Produkte günstiger, als sie eigentlich sind. Wir kaufen automatisch mehr davon. So kommt es, dass Lebensmittel weiterhin so produziert werden, dass sie uns in Wahrheit teuer zu stehen kommen. Wissenschaftler*innen sprechen in diesem Fall von Marktversagen. Denn Produkte, die unseren Lebensgrundlagen schaden, werden automatisch bevorzugt, obwohl sie hohe Folgeschäden verursachen. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung schätzt, dass 60 bis 70 Prozent aller Lebensmittel in Deutschland so produziert werden, dass sie die planetaren Grenzen – die ökologischen Belastungsgrenzen unseres Planeten – überlasten.

Wenn man richtig rechnet, dann ist Bio günstiger

Einer der ersten Unternehmer, der eine Vollkostenrechnung für seinen Betrieb und einzelne Produkte vorgenommen hat, war der Niederländer Volkert Engelsmann. Der Großhändler von Bio-Obst und -Gemüse beauftragte im Jahr 2017 die Agentur „Soil & More“ mit einer Vollkostenrechnung anhand des international anerkannten „Nature Capital Protocol“. Es erlaubt die Abschätzung von Kosten im Bereich KIima, Wasser, Boden und Biodiversität. Zusätzlich wurden Gesundheitskosten ermittelt.

Das Ergebnis: Jedes Kilo Bio-Äpfel, das Engelsmann aus Argentinien importiert, ist in der Gesamtrechnung 25 Cent günstiger als ein vergleichbares Kilo konventioneller Äpfel. Die Bio-Äpfel punkten vor allem durch Bodenaufbau. Dadurch entsteht ein volkswirtschaftlicher Nutzen. Bei konventionellen Äpfeln hingegen schlagen die Folgekosten durch die Pestizidanwendung und die Wassernutzung negativ zu Buche. Die Studie verdeutlicht: Bio-Anbau ist auch aus rein rechnerischen Gründen sinnvoll. „Wir müssen die Begriffe ‚Gewinn’ und ‚Kosten’ endlich neu definieren und ehrlich berechnen“, sagte Engelsmann, als er Ende 2017 zu den 100 nachhaltigsten Niederländern gewählt wurde.

Auch eine ägyptische Studie kam wiederholt zu dem Ergebnis, dass die ökologische Erzeugung von Mais, Kartoffeln, Reis, Weizen und Baumwolle weniger negative Auswirkungen auf Klima, Boden und Wasser hat und diese somit laut Vollkostenschätzung günstiger sind. Die Berechnung nahmen das „Carbon Foodprint Center“, die „Heliopolis Universität für nachhaltige Entwicklung“ und die landwirtschaftliche Unternehmensgruppe SEKEM, der ägyptische Bio-Pionier, im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums vor.

In Deutschland gingen Dr. Tobias Gaugler und sein Team der Forschungsgruppe „Märkte für Menschen“ an der Universität Augsburg erstmals den wahren Kosten auf den Grund. 2018 erschien die Studie „How much is the dish – was kosten uns Lebensmittel wirklich?“ Auch hier zeigte sich: Würde man die Folgekosten ihrer Produktion für Umwelt und Gesellschaft mit einpreisen, würden alle Lebensmittel mehr kosten. Einige nur vier oder sechs Prozent, andere fast 200 Prozent mehr. Diese Studie konzentrierte sich nur auf die Folgekosten des Stickstoffeinsatzes und der Klimaschäden. Die Zerstörung der biologischen Vielfalt wurde hier nicht ermittelt.

"Unsere Untersuchungen offenbaren eine teils enorme Differenz zwischen den aktuellen Erzeugerpreisen und den wahren Kosten", resümiert Gaugler und erläutert weiter: "Die höchsten externen Folgekosten und damit größten Fehlbepreisungen gehen mit der Produktion konventionell hergestellter Nahrungsmittel tierischen Ursprungs einher. Konventionell produzierte Fleisch- und Wurstwaren müssten auf Erzeugerebene dreimal so teuer sein, wie sie derzeit sind, die zweithöchsten Aufschläge müssten für konventionell hergestellte Milchprodukte erfolgen, die niedrigsten für Bio-Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs.“

Eine Langzeit-Studie der Technischen Universität München brachte weitere Erkenntnisse. Die Forschenden haben von 2009 bis 2021 die Umweltleistungen von Bio-Betrieben ökonomisch bewertet. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sie auf jedem Hektar 750 bis 800 Euro Klimafolgekosten pro Jahr vermeiden. Bei der aktuellen Bio-Fläche in Deutschland sind das 1,5 Milliarden Euro jährlich. Wenn wir den Anteil der Bio-Betriebe auf 30 Prozent steigern – so, wie von der Bundesregierung angestrebt – würden mehr als 4 Milliarden Euro an Kosten für Umweltschäden eingespart, so das Fazit der Studie „Umwelt- und Klimawirkungen des ökologischen Landbaus”. Die Begründung: In Bio-Betrieben werden keine mineralischen Stickstoffdünger genutzt. Das spart fossile Energie, denn die Produktion von Kunstdüngern ist sehr energieintensiv. Gleichzeitig sorgen Bio-Betriebe im Durchschnitt für mehr Humusaufbau im Boden. Humus bindet Kohlenstoff, den wichtigsten Baustein von CO2. Dadurch werden insgesamt weniger Treibhausgase freigesetzt.

Und jetzt?

Natürlich ist es keine Option, die versteckten Folgekosten zusätzlich auf den Lebensmittelpreis aufzuschlagen. Denn dann würden Verbraucher*innen ja viermal zur Kasse gebeten:

  1. Verbraucher*innen finanzieren jetzt schon über ihre Steuern die Subventionen für Betriebe, die nicht ökologisch wirtschaften.
  2. Sie bezahlen regulär das Produkt an der Ladentheke.
  3. Als Gesellschaft kommen wir früher oder später für die ökologischen Schäden auf.
  4. Und dann sollen die Endverbraucher*innen noch einen Aufschlag auf ein Endprodukt bezahlen, um eine Produktion zu unterstützen, die diese Schäden anrichtet.

Experimente mit erhöhten Endverbraucher-Preisen können durchaus der Bewusstseinsbildung dienen. Sie zeigen aber vor allem, dass wir die Ursachen dieser Fehlsteuerung angehen müssen. Denn es ist günstiger, Schäden zu vermeiden, als sie später zu beseitigen.

Im Jahr 2022 wurde das Handbuch der "True Cost Initiative" publiziert. Es zeigt, wie man Leistungen von Unternehmen umfassender und objektiver vergleichen und wie man das Konzept der wahren Kosten in die Praxis bringen kann. Daran haben zahlreiche Personen mitgewirkt, unter anderem aus Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Wissenschaft. Im ersten Schritt wurde gemeinsam eine Methodik entwickelt. Diese wurde im zweiten Schritt auf reale Wertschöpfungsketten angewandt.

Hier können Sie das Handbuch „True Cost – From Costs to Benefits in Food and Farming – Methodik der Folgenabschätzung für den Lebensmittel- und Landwirtschaftssektor herunterladen: https://tca2f.org/wp-content/uploads/2022/03/TCA_Agrifood_Handbook.pdf

Schäden vermeiden und Nutzen fördern

Neben der Möglichkeit, Schäden und deren Folgekosten zu reduzieren, gibt es auch den Ansatz, den ökologischen und sozialen Nutzen für die Gesellschaft zu fördern: Die Regionalwert-Leistungsrechnung ist eine von mehreren Forschungsansätzen, die den wahren Nutzen von nachhaltigen Produktionsweisen messbar macht. Sie ermittelt die ökologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Leistungen von Bio-Betrieben und zeigt, dass diese in die Milliarden gehen. Auch für die Ermittlung von Nachhaltigkeitsleistungen konventioneller Betriebe ist die Regionalwert-Leistungsrechnung geeignet. Das wichtige Prinzip bei diesem Ansatz: Was man messen kann, das kann man auch fördern.

Fazit

Bio-Lebensmittel einzukaufen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Transformation des Ernährungssystems. Auch viele nachhaltige Ernährungsinitiativen setzen sich dafür ein, dass eine regionale, nachhaltige Landwirtschaft schneller in Fahrt kommt, zum Beispiel Öko-Modellregionen, Projekte der solidarischen Landwirtschaft, Ernährungsräte oder das Netzwerk der Bio-Städte. Diese Initiativen zeigen, dass es anders geht. Und auch immer mehr Verbraucher*innen entscheiden sich am Point of Sale gegen den Mainstream und kaufen Bio, obwohl es im Moment teurer ist

Die True-Cost-Forschung macht deutlich, warum wir uns so schwer tun mit „Bio für alle“: Unser derzeitiges Marktsystem fördert Betriebe, die auf Kosten der Gesellschaft wirtschaften. Wir müssen die Rahmenbedingungen ändern, unter denen wir Lebensmittel produzieren. So betonte Patrick Holden vom Sustainable Food Trust bereits 2017 bei der Veröffentlichung der britischen Studie:

"Es mag so wirken, als ob wir die Lebensmittelproduzent*innen kritisieren. So sollte dieser Bericht aber nicht verstanden werden. Jeder kann mit seinem Finger auf den anderen zeigen, aber in Wahrheit sind wir alle schuldig. In vielerlei Hinsicht sind die Landwirte mehr Opfer als Bösewichte. Das zeigt sich daran, dass viele Produzenten in den vergangenen Jahren gezwungen waren, ihren Betrieb aufzugeben, weil die Preise unter den Produktionskosten liegen. Wenn man die wahren Kosten zur Entscheidungsfindung heranzieht, dann ist das der beste und möglicherweise der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, der uns behindert."

Aus dieser Sackgasse kommen wir nur heraus, wenn die Weichen so gestellt werden, dass Betriebe, die unsere Lebensgrundlagen pflegen und erhalten, dafür honoriert werden. Und wenn es für alle Menschen überall ein bezahlbares, nachhaltiges und gesundes Lebensmittelangebot gibt: Im Handel, in Restaurants, Kiosken und an Tankstellen, auf den Märkten, in Schulen, Kitas, Krankenhäusern und Altenheimen braucht es Ernährungsumfelder, die die gute Wahl zur einfachen Wahl machen.

Dass das möglich ist, machen andere Länder und Kommunen uns vor, zum Beispiel Belo Horizonte, eine Millionenstadt in Brasilien (mehr dazu in unserem Artikel „Foodrevolution im Film“). Die Transformation gelingt immer dort, wo es mutige und entschlossene Politiker*innen gibt, wo es Organisationen gibt, die diesen Wandel organisieren und Bürger*innen, die sie dabei unterstützen.

# BZfE-Forum „Essen wird anders – Ernährung und die planetaren Grenzen“

Tobias Bandel von „Soil & More Impacts B. V.“ erläutert, wie sich landwirtschaftliche Erzeugung auf die wahren Kosten auswirkt und ein Umdenken zur Honorierung nachhaltiger Landwirtschaft beginnt. Aufzeichnung eines Workshops im Rahmen des 4. BZfE-Forums „Essen wird anders – Ernährung und die planetaren Grenzen“ im September 2020.

Weitere Videos und interessanten Input vom 4. BZfE-Forum finden Sie auf der Seite Ernährung und die planetaren Grenzen.

Weitere Fragen

Können wir mit Bio die Welt ernähren?

Diese Frage ist fast so alt wie die Bio-Bewegung selbst. Eine Studie im Auftrag des Öko-Instituts Freiburg kam schon im Jahr 2000 zu dem Ergebnis, dass wir uns in Deutschland durchaus zu 100 Prozent von Bio ernähren könnten, vorausgesetzt wir würden weniger tierische Lebensmittel essen. Unser Ernährungsverhalten müsste sich in etwa dem der Menschen in Italien anpassen. Die mediterrane Ernährung gilt aufgrund ihrer hohen Vielfalt und des niedrigen Fleischanteils ohnehin als eine klimafreundliche Ernährungsweise (Sáez-Almendros 2013; Fresán 2018).

Ein Team des Forschungsinstituts für biologischen Landbau FIBL unterstützt die ersten Abschätzungen des Öko-Instituts: Mit einem reduzierten Konsum von tierischen Lebensmitteln wäre die weltweite Umstellung auf ökologischen Landbau möglich. Denn dann würden wir auch weniger wertvolle Agrarflächen für Futtermittel benötigen. Die zweite Bedingung wäre: Die Nahrungsmittelabfälle müssten reduziert werden (Müller et al. 2017).

Seemüller, M. (2000): Der Einfluss unterschiedlicher Landbewirtschaftssysteme auf die Ernährungssituation in Deutschland in Abhängigkeit des Konsumverhaltens der Verbraucher.
Ökoinstitut Freiburg https://www.oeko.de/oekodoc/76/2000-010-de.pdf

Sáez-Almendros S, Obrador B, Bach-Faig A, Serra-Majem L. (2013). Environmental foodprints of Mediterranean versus Western dietary patterns: beyond the health benefits of the Mediterranean diet. Environ Health. 12:118. doi: 10.1186/1476-069X-12-118.

Fresán U, Martínez-Gonzalez MA, Sabaté J, Bes-Rastrollo M. (2018). The Mediterranean diet, an environmentally friendly option: evidence from the Seguimiento Universidad de Navarra (SUN) cohort. Public Health Nutr. 21(8):1573-1582. doi: 10.1017/S1368980017003986.

Müller A, Schader C, El-Hage Scialabba N, Brüggemann J, Isensee A, Erb KH, Smith P, Klocke P, Leiber F, Stolze M, Niggli U. (2017) Strategies for feeding the world more sustainably with organic agriculture.
Nat Commun.8(1):1290. doi: 10.1038/s41467-017-01410-w.

Die Pressemitteilung zur letztgenannten Veröffentlichung finden Sie auf www.fibl.org. Dort gibt es die Studie auch als PDF zum Herunterladen: https://www.fibl.org/de/medien/medienarchiv/medienarchiv17/medienmitteilung17/article/neue-studie-belegt-bio-kann-einen-wichtigen-beitrag-zur-welternaehrung-leisten.html

Mehr produzieren und weniger Schaden anrichten – wie kann das gehen?  

Die Antwort auf Umweltzerstörung und Ressourcenverluste heißt nicht „zurück in die Steinzeit“. Es geht vielmehr um eine intelligente ökologische Intensivierung. Die Idee: Vielfältige kleinbäuerliche Betriebe können einen höheren sozialen und Umweltnutzen schaffen, als intensive, großflächige Monokulturen.

Bislang gibt es noch keine Langzeitstudien, die die Produktivität und die Umweltwirkungen von kleinbäuerlichen diversen Betrieben mit spezialisierten konventionellen Betrieben vergleichen. Es gibt aber Studien, die darauf hinweisen, dass die geschickte Nutzung von Wechselwirkungen dazu führen kann, mehr Nährstoffe pro Hektar zu erzeugen als mit herkömmlicher Landwirtschaft. Dies ist das Ergebnis eines Feldversuches, den die Biologin und Trägerin des alternativen Nobelpreises Vandana Shiva und ihr Kollege Vaibhaf Singh in drei indischen Bundesstaaten durchführten: Auf einem Hektar in biologischer Mischkultur konnten die Landwirt*innen ein Drittel mehr Kalorien und doppelt so viel Eiweiß produzieren als auf einem Hektar mit konventioneller Monokultur (siehe Tabelle unten).

„Viele Kosten werden stillschweigend in Kauf genommen, weil man glaubt, sie seien durch die höhere Produktivität der industriellen Landwirtschaft zu rechtfertigen. Das ist allerdings ein Irrglaube.“, schlussfolgern die Autor*innen. Tatsächlich sind es in den meisten Ländern der Erde nach wie vor die kleinbäuerlichen Familienbetriebe, die auf wenig Fläche den meisten Ertrag erwirtschaften, weil sie diese Fläche intensiver bewirtschaften. So stellte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO in ihrem Jahresbericht 2014 fest.

„Mehr als 500 Millionen Familienbetriebe managen den Großteil der landwirtschaftlichen Fläche weltweit und produzieren auch die meisten Lebensmittel weltweit. Wir brauchen diese Familienbetriebe, um die globale Lebensmittelversorgung zu sichern, unsere Umwelt zu pflegen und zu schützen und Armut, Unter- und Mangelernährung zu beenden (FAO 2014).“

 
Nährstoff In organischem Mischanbau pro Hektar Anbaufläche produzierte Menge In konventioneller Monokultur pro Hektar Anbaufläche produzierte Menge
Protein 240 Kilogramm 116 Kilogramm
Kohlenhydrate 833 Kilogramm 785 Kilogramm
Fett 66 Kilogramm 23 Kilogramm
Karotin 2.912 Milligramm 745 Milligramm
Thiamin (Vitamin B1) 6.550 Milligramm 3.911 Milligramm
Riboflavin 3.179 Milligramm 1.685 Milligramm
Niacin 31.443 Milligramm 28.381 Milligramm
Vitamin B6 821 Milligramm 475 Milligramm
Folsäure 878 Milligramm 328 Milligramm
Vitamin C 24.145 Milligramm 36.833 Milligramm
Cholin 680.675 Milligramm 537.527 Gramm
Calcium 2.166 Gramm 731 Gramm
Eisen 82 Gramm 43 Gramm
Phosphor 5.158 Gramm 3.117 Gramm
Magnesium 1.866 Gramm 1.496 Gramm
Natrium 197 Gramm 158 Gramm
Kalium 6.076 Gramm 3.465 Gramm
Chlor 323 Gramm 320 Gramm
Kupfer 12.591 Milligramm 6.101 Milligramm
Mangan 25.124 Milligramm 15.629 Milligramm
Molybdän 3.694 Milligramm 1.077 Milligramm
Zink 43.977 Milligramm 26.769 Milligramm
Chrom 345 Milligramm 157 Milligramm
Sulfur 1,64 Kilogramm 1,30 Kilogramm
Kalorien gesamt 4.914.870 Kilokalorien 3.711.475 Kilokalorien

Shiva V., Singh Vaibhav, 2018. Die wahren Kosten der industriellen Landwirtschaft. In. Engelsman, V., Geier, B. (Hrsg). Die Preise lügen. Oekom, S. 31.

Mit freundlicher Genehmigung des oekom verlags: https://www.oekom.de/nc/buecher/gesamtprogramm/buch/die-preise-luegen.html

Website der FAO zur Agrarökologie http://www.fao.org/agroecology/overview/en/

FAO (2014): State of the Food and Agriculture: http://www.fao.org/publications/sofa/2014/en/

Ist es nicht schon zu spät zum Umsteuern?

Ob wir die Umweltschäden wieder gutmachen können, die wir mit unserem Ernährungssystem verursacht haben, ist noch nicht absehbar. Es wird davon abhängen, ob sich Menschen auf allen Ebenen dafür einsetzen, gleich ob in Organisationen, Familien, Unternehmen oder in der Politik. Die gute Nachricht ist: In den letzten Jahrzehnten haben sich mehr und mehr übergreifende Aktionsgruppen und Netzwerke gebildet. Eine davon ist die "4 per 1000"-Initiative für Ernährungssicherung und Klima. Sie entstand im Rahmen des Lima-Paris-Aktionsplans und wird getragen von Interessensvertreterinnen und -vertretern aus der Wirtschaft, Regierungen, privaten Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und Forschungseinrichtungen.

Ihre Motivation: Wenn wir die organische Substanz (Humus) im Boden um nur 0,4 % pro Jahr steigern, dann könnte dies die Zunahme von CO2 in der Atmosphäre sogar stoppen. Die Verbesserung des Humusgehaltes unserer Böden könnte nicht nur das Klima stabilisieren, sondern auch die landwirtschaftliche Produktivität und die Widerstandskraft bei extremen Wetterereignissen verbessern.

Wie könnte das gehen? Die Initiative empfiehlt: Stoppt die Entwaldung und unterstützt nachhaltige, ökologische oder regenerative Anbaupraktiken, die den Anteil an organischer Masse im Boden steigern, zum Beispiel Gründüngung, Ausbringung von Kompost und Aufbau von Agroforstsystemen.

Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) unterstützt das Exekutivsekretariat der Initiative zusammen mit den Landwirtschaftsministerien von Frankreich und Spanien. Mehr Informationen zur Initiative gibt es auf www.4p1000.org.

Sanderman J, Hengl T, Fiske GJ (2017). Soil carbon debt of 12,000 years of human land use.  PNAS 114 (36) 9575-9580; doi: 10.1073/pnas.1706103114

Welche Institutionen engagieren sich für die Berechnung der wahren Kosten?

True Cost Initiative

Die Initiative „True Cost – From Costs to Benefits in Food and Farming“ wurde 2019 ins Leben gerufen. Sie brachte ein breites Netzwerk aus Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Wissenschaft zusammen.

Das Hauptziel der True Cost Initiative war es, eine transparente und ganzheitliche Berichterstattung über die ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen von Unternehmen zu schaffen. Die Anwendung ihres technischen Handbuchs zur Berechnung der wahren Kosten von Lebensmitteln und landwirtschaftlichen Erzeugnissen ermöglicht einen umfassenderen und objektiveren Vergleich der Leistungen von Unternehmen und setzt Anreize für die Einführung nachhaltiger Geschäftsmodelle.

tca2f.org

The Economics of Ecosystems and Biodiversity (TEEB) for Agriculture & Food

TEEB ist ein Programm der Vereinten Nationen, das Personen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und landwirtschaftlichen Organisationen zusammenbringt. Das gemeinsame Ziel: Eine vollständige Untersuchung unserer Agrarsysteme und die Entwicklung von Szenarien für eine Transformation zur nachhaltigen Landwirtschaft.

teebweb.org

UK True Cost Accounting Working Group

Diese Arbeitsgruppe aus 25 verschiedenen Organisationen wurde vom Sustainable Food Trust gegründet. Sie arbeitet daran, die versteckten Kosten des Landwirtschaftssystems sichtbar zu machen.

sustainablefoodtrust.org

Global Alliance for the Future of Food (GAFF)

GAFF ist eine Stiftung, die Know-how und Ressourcen zusammenzieht sowie Rahmenbedingungen und Strategien entwickelt für die Transformation zu einem globalen, nachhaltigen Ernährungs- und Landwirtschaftssystem. 

futureoffood.org

Compassion in World Farming (CiWF)

Die CIWF wurde 1967 von einem britischen Landwirt gegründet. Die Organisation setzt sich unter anderem für eine Lebensmittelsteuer ein, in Höhe der negativen versteckten Kosten. Diese Einnahmen sollen Betrieben zugutekommen, die positive Effekte für die Gesellschaft hervorbringen.

www.ciwf.org.uk

International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES)

IPES setzte sich dafür ein, Experten aus unterschiedlichsten Fachgebieten zusammenzubringen, um die Politik darüber zu informieren, wie das Ernährungssystem weltweit reformiert werden kann. IPES hat im Jahr 2016 einen Bericht veröffentlicht mit dem Titel „Ein Paradigmenwandel von industrieller Landwirtschaft zu diversifizierten agrarökologischen Systemen (A paradigm shift from industrial agriculture to diversified agroecological systems)“.

www.ipes-food.org

Nature & More (Eosta)

Nature & More ist Transparenzsystem und Handelsmarke für Bio-Obst und -Gemüse des internationalen Unternehmens Eosta B.V. mit Hauptsitz in den Niederlanden. Im Rahmen der Kampagne "Was unser Essen wirklich kostet" hat Nature & More / Eosta mit Partnern eine Methode zur Vollkostenrechnung entwickelt. Mit dem Modell der "True Cost"-Blume, die bisher für neun Lebensmittel erarbeitet wurde, macht das Unternehmen die wahren Kosten der Lebensmittelerzeugung für Verbraucher sichtbar. 

Mehr über den Ansatz von Nature & More lesen Sie in unserem Artikel Die "True Cost"-Blume

International Federation of Organic Agriculture Movements (IFOAM)

IFOAM wurde 1972 als internationale Dachorganisation für den ökologischen Landbau gegründet. Gemeinsam mit dem Sustainable Organic Agriculture Action Network (SOAAN) setzt sich IFOAM dafür ein, wissenschaftliche Daten zur "True Cost"-Debatte zusammenzutragen und zu verbreiten.

www.ifoam.bio

Trucost

Trucost ist ein Unternehmen, das seit dem Jahr 2000 für Unternehmen, Organisationen, Kommunen und Regierungen Kostenabschätzungen von versteckten, ausgelagerten Kosten durchführt. Dazu gehört unter anderem die Studie „Natural Capital Impacts in Agriculture“, die für die Vereinten Nationen angefertigt wurde. 

www.trucost.com

True Price

Auch True Price ist ein Sozialunternehmen. Es unterstützt Organisationen dabei, die wahren Preise für ihre Produkte zu berechnen.

trueprice.org

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