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Methoden der modernen Zukunftsforschung ermöglichen es uns, Wege zu einem nachhaltigen Ernährungssystem zu erkennen und zu beschreiten.

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  • Ein positives Bild von einem nachhaltigen Ernährungssystem hat große Veränderungskraft.
  • Das „Modell der drei Horizonte“ enthält einfache Fragen, die den Austausch über eine positive Zukunft unterstützen.
  • Damit lassen sich gute Ansatzpunkte für Veränderung finden.
  • Diese Moderationsmethode wurde beim 4. BZfE-Forum erstmals im deutschen Ernährungskontext eingesetzt.

„Wenn wir nicht die Richtung ändern, dann werden wir tatsächlich dort landen, wo wir hinsteuern.", sagte die Zukunftsforscherin Dr. Laura Pereira auf dem 4. BZfE Forum mit dem Titel „Essen wird anders – Ernährung und die planetaren Grenzen“, das im September 2020 in digitaler Form stattfand. Denn die Trends zeigen in die falsche Richtung, blickt man auf die Folgen des Klimawandels und auch auf die Verbreitung des Übergewichts, stellte Pereira fest.

Dr. Laura Pereira ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Food Policy in London. Sie beschäftigt sich in interdisziplinären Projekten mit „Food System Transformation“, also Ernährungstransformation, und damit der Frage, wie wir ein Ernährungssystem entwickeln können, das nachhaltig ist und unsere Lebensgrundlagen schützt. Dabei arbeitet sie unter anderem mit dem „Modell der drei Horizonte", das Anfang der 2000er-Jahre im Rahmen der Transformationsforschung entstand. Es nutzt die Methode des sogenannten Backcastings und baut sie weiter aus. Im Gegensatz zum Forecasting – also Vorhersagen auf Basis bekannter Fakten – wird beim Backcasting rückwärts geplant: „Was muss passieren, damit wir bestimmte Ziele wie eine ideale Zukunft erreichen – und wann muss was passieren?“.

Die Backcasting-Methode in der Zukunftsforschung

Viele wissenschaftliche Ansätze der Zukunftsforschung treffen Vorhersagen auf Basis bekannter Wissensbestände. Klassische Beispiele für das sogenannte Forecasting sind der Wetterbericht und Wirtschaftsprognosen. Mit solchen Vorhersagen kann man allerdings nur begrenzt neue, alternative Zukunftsszenarien entwickeln. Wer alte Denkmuster verlassen und Zukunft neu denken möchte, braucht daher andere Methoden wie das Backcasting. Dabei wird zuerst ein Szenarium für die ideale Zukunft entworfen. Dann gilt es zu überlegen, wie die definierten Ziele erreicht werden können.

Backcasting eignet sich besonders

  • für komplexe Fragen,
  • wenn grundlegende Veränderungen erforderlich sind,
  • wenn das Problem durch dominante Verhaltensmuster erzeugt wird,
  • wenn das Problem durch Kräfte beeinflusst wird, die der Markt allein nicht lösen kann, oder
  • wenn der Zeitraum lang genug ist, dass man noch Wahlmöglichkeiten hat (Dreborg 1996).

Eine wichtige Voraussetzung für das Backcasting ist, dass die Teilnehmer*innen vorher fundierte Informationen über die aktuelle Situation, ihre Probleme und Herausforderungen erhalten. Backcasting wird seit vielen Jahren im Bereich der nachhaltigen Stadtentwicklung, aber auch im Bereich nachhaltiger Konsum eingesetzt (Davies & Doyle 2015).

Zukunftsszenarien entwerfen

„Wir haben meist ein ziemlich gutes Gefühl dafür, was unsere Probleme sind“, meint Dr. Laura Pereira. Angesichts der vielen negativen Trends ist es aber schwer, sich vorzustellen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Menschen verfügen jedoch über die Fähigkeit, sich eine positive Zukunft vorzustellen. Zum Beispiel, wenn man ein besonderes Essen plant, einen Urlaub oder sogar ein neues Haus. Diese Fähigkeit gilt es zu nutzen, um Zukunftsszenarien zu entwickeln und umzusetzen.

Der Ausgangspunkt für das „Modell der drei Horizonte“ sind die guten Beispiele, die „Keimzellen der Veränderung“. Das sind Projekte, Verfahren oder auch innovative Handlungsmuster, die es heute schon gibt und die eine Idee davon vermitteln, in welche Richtung die Reise in die Zukunft gehen könnte.

Eine solche Keimzelle der Veränderung kann zum Beispiel ein neunstöckiges Geschäftsgebäude im Stadtzentrum von Tokyo sein, in dem gleichzeitig städtische Landwirtschaft betrieben wird. Oder ein Projekt, bei dem Jugendliche Mittagessen für ältere Menschen kochen und liefern. Solche Projekte zeigen: Veränderung ist möglich und ein Prozess, den wir selbst gestalten können.

Das „Modell der drei Horizonte“ wurde schon in vielen Forschungsprojekten eingesetzt. Zum Beispiel in dem interdisziplinären Forschungsvorhaben „Seeds of Good Antropocenes“ („Keimzellen guter Anthropozäne“), das Dr. Laura Pereira in ihrem Vortrag beim 4. BZfE-Forum vorstellte. Anhand von bestehenden Projekten und Initiativen untersuchen die Forscher*innen, wie eine positive Zukunft des Ernährungssystems aussehen könnte. Gemeinsam mit Steakholdern aus verschiedenen Bereichen erarbeiten sie positive Zukunftsszenarien. Dazu gehören z. B. das Mapping von Keimzellen einer positiven Zukunft, aber auch Publikationen und Filme über diese Methode.

Zukunftslabor – Unser Ernährungssystem neu denken

Video-Mittschnitt des Vortrags von Dr. Laura Pereira auf dem 4. BZfE-Forum (englisch mit deutschen Untertiteln).

Wichtig für Transformationsprozesse sind gute Fragen, zum Beispiel: „Wie sieht eigentlich eine wünschenswerte Zukunft aus?“, „Was muss weniger werden, damit wir in die Zukunft gelangen, die wir uns wünschen?“ oder „Was können wir dafür tun, damit die Keimzellen der Veränderung mehr werden und Teil dieser positiven Zukunft?“.

Das Modell der drei Horizonte

Das Modell der drei Horizonte ermöglicht einen Austausch über die Herausforderungen in der Gegenwart, die wünschenswerte Zukunft und auch die Frage, wie wir den Übergang gestalten können. Diese Moderationsmethode eröffnet ganz unterschiedlichen Menschen den Raum, um sich gemeinsam eine Vorstellung von einer Problemlage zu verschaffen. Auf dieser Basis können dann Zukunftsvorstellungen entwickelt werden, aber auch Strategien, um diese zu verwirklichen.

Das Verfahren ist vielseitig einsetzbar, etwa in der Bildung, in der Stadtentwicklung oder auch im Ernährungsbereich. Es wird situationsangepasst auch variiert und mit anderen Methoden kombiniert (Sharp 2016; Pereira 2018). Anhand des Modells lassen sich u. a. folgende Schlüsselfragen stellen:

Horizont 3: Vision – Wie könnte eine wünschenswerte, ideale Zukunft aussehen? Welche neuen Denkmuster und Überzeugungen brauchen wir dafür (Ende des Horizont 3)? Inspiration – Wo gibt es heute schon gute inspirierende Beispiele, die Keimzellen dieser wünschenswerten Zukunft (Anfang des Horizont 3)?

Horizont 1: Herausforderungen und Fehler der Gegenwart – Welche Aspekte des gegenwärtigen Systems schaden uns? Was muss weniger werden in Zukunft? Welche Denkmuster behindern Veränderung? Bewahren –  Welche Elemente des alten Systems sollten wir erhalten (Ende Horizont 1)?

Horizont 2: Innovation – Was muss passieren, um die negativen Auswirkungen des alten Systems zu reduzieren und die guten Beispiele zu fördern? Welche Innovationen unterstützen die Ausrichtung in Richtung Nachhaltigkeit?

Mit einer klaren Analyse der Probleme und Herausforderungen (Horizont 1) und einer positiven Vision einer nachhaltigen Ernährung (Horizont 3) lassen sich im Hier und Jetzt die Keimzellen der Veränderung genauso identifizieren (Anfang Horizont 3), wie die Bedingungen, unter denen sie sich entwickeln und unter denen sie wachsen können (Horizont 2).

Das kann die Methode leisten

Das Modell der drei Horizonte ist eins von vielen Verfahren, um gemeinsam mit unterschiedlichen Akteur*innen Zukunft neu zu denken und Handlungsansätze für Veränderungen zu identifizieren. Durch die Anwendung solcher Modelle erweitert sich die Perspektive der Beteiligten. So wird der Blick frei für neue Ansatzpunkte, um z. B. das Ernährungssystem umzugestalten. Was daraus entsteht und ob die Menschen dadurch ins Handeln kommen, hängt davon ab, wie die Fragestellungen und Ideen anschließend angegangen werden.

Visionen für die Zukunft

Wie das Modell der drei Horizonte in der Praxis angewendet werden kann, haben die Teilnehmer*innen des 4. BZfE-Forums mit dem Titel „Essen wird anders – Ernährung und die planetaren Grenzen“ im Zukunftslabor ausprobieren können. Dabei haben sie sich an den Leitfragen orientiert, die ein interdisziplinäres Team in einem Forschungsprojekt mit Dr. Laura Pereira entwickelt hat. In diesem Projekt ging es darum, eine Zukunftsstrategie für Südafrika zu entwickeln.

Im Rahmen des BZfE-Forums wurden die Leitfragen erstmals in deutschem Ernährungskontext und in einem interaktiven Online-Format erprobt, nachdem sie noch einmal eng mit der Wissenschaftlerin abgestimmt worden waren. In 25 Kleingruppen wurde diskutiert, welche Sorgen den Ernährungsexpert*innen die Ernährung der Gegenwart bereitet, welche positiven Zukunftsbilder sie für unsere Ernährung haben und wie aus diesen Visionen Realität werden könnte. Einige der Aussagen haben wir hier zusammengetragen:

 

In jeder Branche und auf jeder Ebene der Gesellschaft gibt es Keimzellen der Veränderung – ob in der Schulverpflegung, der Landwirtschaft, der Regionalentwicklung, der Forschung zu den wahren Kosten, in den Bio-Städten oder im Handel. Im folgendem Video, einem Mitschnitt aus dem BZfE-Forum, sprechen sechs Expert*innen über ihre Vision für ein nachhaltiges Ernährungssystem. „Think Big!“, forderte Moderatorin Susanne Willner sie auf. Und das geht!

 

Gute Beispiele für ein nachhaltiges Ernährungssystem

Literaturquellen:

  • Davies A R  and Doyle R.(2015)Transforming Household Consumption: From Backcasting to HomeLabs Experiments,Annals of the Association of American Geographers,105:2,425-436,DOI: 10.1080/00045608.2014.1000948
     
  • Dreborg K. H. (1996) Essence of Backcasting.Futures, Vol. 28, No. 9, pp. 813-828
     
  • Sharpe B, Hodgson A, Leicester G, Lyon A and Fazey I (2016). Three horizons: a pathways practice for transformation. Ecology and Society 21(2):47. http://dx.doi.org/10.5751/ES-08388-210247 
     
  • Pereira L M, Hichert T, Hamann M, Preiser R. and Biggs R (2018). Using futures methods to create transformative spaces: visions of a good Anthropocene in southern Africa. Ecology and Society 23(1):19. https://doi.org/10.5751/ES-09907-230119

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