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Hochverarbeitete Lebensmittel stehen derzeit heftig in der Kritik – sie gelten vielfach als wesentliche Verursacher ernährungsmitbedingter Erkrankungen.

Monkey Business / stock.adobe.com

Tatsächlich zeigten Beobachtungsstudien, dass der bevorzugte Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (Srour et al. 2019), verschiedene Krebserkrankungen (Fiolet et al. 2018) sowie Depressionen einhergeht (Gómez-Donoso et al. 2020) und mit einer früheren Sterblichkeit assoziiert ist (Rico-Campà et al. 2019).
Diese Studien basieren auf der sogenannten NOVA-Klassifikation. Sie teilt Lebensmittel nach ihrem Verarbeitungsgrad in vier Stufen ein, die von unverarbeitet/minimal verarbeitet (Stufe 1; Samen, Früchte, Wurzeln, Eier), über verarbeitete Zutaten (Stufe 2; Butter, Zucker, Salz), verarbeitete Lebensmittel (Stufe 3; frisch gebackenes Brot, gereifter Käse, Obst- und Gemüsekonserven) bis zu hoch verarbeiteten Fertigprodukten (Stufe 4; verarbeitete Fleisch- und Fischprodukte, vorgefertigte Tiefkühlgerichte und Süßigkeiten) reicht. Demnach setzten sich hochverarbeitete Lebensmittel aus meist durch chemische Prozesse modifizierte Zutaten zusammen und seien unter Verwendung von Aromen, Farbstoffen und Emulgatoren sofort verzehrfertig und besonders schmackhaft. Das fördere eine (zu) hohe Energiezufuhr (Monteiro et al. 2019).

Als besorgniserregend gilt, dass diese Lebensmittel einen großen Anteil an den üblicherweise verzehrten Lebensmitteln ausmachen (Vandevijvere et al. 2019), zum Teil bereits mit der Beikost eingeführt (Longo-Silva et al. 2017) und bevorzugt in Regionen mit niedrigem Sozialstatus aggressiv beworben werden (Fagerberg et al. 2019). Ein Experiment mit 20 Personen zeigte zudem, dass die Teilnehmenden bei unbegrenztem Zugang zu einer Kost mit hochverarbeiteten Lebensmitteln innerhalb von 14 Tagen deutlich mehr Energie verzehrten und an Gewicht zunahmen als während der Phase mit unbegrenztem Zugang zu kaum verarbeiteten Lebensmitteln, in der sie an Gewicht verloren (Hall et al. 2019).

Aufgrund dieser Hinweise werden bereits Rufe nach Public-Health-Maßnahmen zur Reduktion des Konsums hochverarbeiteter Lebensmittel laut (Adams et al. 2020). Und obwohl eine Übersichtsarbeit kürzlich postulierte, dass Kritisierende des Konzepts der Industrie nahe stünden (Mialon et al. 2018), gibt es Gründe, die Rufe kritisch zu überdenken: Bislang basiert die Evidenz wesentlich auf Beobachtungsstudien und einem kurzfristigen Experiment. Bei beiden Ansätzen ist es wahrscheinlich, dass die beobachteten Effekte nicht dem Verarbeitungsgrad selbst zuzuschreiben sind, sondern Lebensmitteln, die sich in Interventionsstudien bereits als protektiv für ernährungsmitbedingte Erkrankungen erwiesen haben. So verzehrten die Teilnehmenden im Experiment von Hall et al. (2019) während der 14 Tage mit Zugang zu hoch verarbeiteten Lebensmitteln deutlich mehr Kohlenhydrate und Zucker, gesättigte Fette und Salz sowie weniger Protein, mehrfach ungesättigte Fettsäuren und lösliche Ballaststoffe als während der Phase mit Zugang zu kaum verarbeiteten Lebensmitteln (Ludwig et al. 2019). Zudem erscheint es biologisch nicht plausibel, moderne Zivilisationserkrankungen wesentlich auf den Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln zurückzuführen – ist Verarbeitung doch häufig Teil der Erzeugung von Lebensmitteln wie zum Beispiel bei Brot oder Olivenöl.

Für die Implementierung von Public-Health-Maßnahmen ist belastbare Evidenz für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Exposition (hier: Verarbeitungsgrad) und der Entstehung von Erkrankungen erforderlich (Jebb 2015), um sicherzustellen, dass eine Maßnahme zur Verringerung des Konsums von hochverarbeiteten Lebensmitteln tatsächlich zu einer verringerten Krankheitslast in der Bevölkerung führt. Zwar kann ein reduzierter Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel etwa auch den Konsum von Zucker verringern – das wäre jedoch auch mit anderen Maßnahmen (z. B. einer Zuckersteuer) erreichbar, die sich mit besserer Evidenz unterfüttern assen.

Fazit

Der Versuch, ein einziges Konstrukt als Hauptursache für ernährungsmitbedingte Erkrankungen zu bemühen, ist als problematisch zu bewerten. Für einzelne Lebensmittelgruppen (z. B. Fleisch) oder Nährstoffe (z. B. Kohlenhydrate) ist der Einfluss des Verarbeitungsgrades auf die Lebensmittelmatrix allerdings belegt und Gegenstand weiterer Untersuchungen. Zudem gelten zahlreiche gering verarbeitete Lebensmittel (wie Obst, Gemüse oder Nüsse) als schützend vor ernährungsmitbedingten Erkrankungen; Evidenz für diese günstigen Einflüsse ist Grundlage gegenwärtiger lebensmittelbasierter Empfehlungen. Andere Lebensmittelgruppen wie Getreideprodukte und Hülsenfrüchte (oder daraus hergestellte Produkte wie Sojadrink) bedürfen jedoch einer Verarbeitung und es ist wissenschaftlich nicht begründbar, warum dieser Schritt zu einer schlechteren Einstufung der Lebensmittel in der Klassifikation führt.

Der Artikel ist erschienen in Ernährung im Fokus 2 2021.

Hochverarbeitete Lebensmittel und ernährungsmitbedingte Erkrankungen – kausal oder irreführend?

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