
Lässt sich ein gestörtes Essverhalten durch Achtsamkeit beeinflussen? Hilft achtsam(er) Essen beim Abnehmen? Braucht es dafür einen speziellen Kurs, ein ganzes Leben oder reichen ein paar einfache Tipps und Tricks? Und wie passt Achtsamkeit in die Ernährungsberatung und -therapie?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Denn zwischen der Fähigkeit und Weisheit, wie ein buddhistischer Mönch achtsam zu leben und Achtsamkeit beim Essen liegen Welten. Achtsamkeit ist mehr als die Rosinenübung. Dennoch führt diese einfache Übung oft zu Aha-Erlebnissen, die zeigen: In der Achtsamkeit stecken große Chancen, das eigene Essverhalten besser wahrzunehmen. Nicht als Ersatz, sondern ergänzend zu einer professionellen, auf den Bedarf jedes Einzelnen abgestimmten Ernährungsberatung.
Dieser Artikel gibt einen ersten Einblick ins Thema. Wer neugierig geworden ist, kann diesen mittels guter Bücher vertiefen, selber an einem Achtsamkeitskurs teilnehmen oder sich bei qualifizierten Achtsamkeitsexpert*innen weiterbilden.
Was ist Achtsamkeit?
Positives Essverhalten durch Achtsamkeit
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Achtsamkeit ist keine neue Erfindung, sondern ursprünglich Teil der buddhistischen Lehre. Danach bedeutet achtsam sein, den gegenwärtigen Moment bewusst zu erleben, ohne ihn zu bewerten, zu verurteilen oder zu kommentieren. Diese Fähigkeit kann wie ein Muskel trainiert werden. Durch Meditationen und achtsames Verhalten im Alltag. Beides erfordert viel Zeit, Übung und Ausdauer.
Achtsamkeit kann Menschen helfen, die unter Stress leiden. Dazu entwickelte Jon Kabat-Zinn den achtwöchigen Kurs „Mindfullness-Based Stress Reduction“ (MBSR). Das Konzept ist wissenschaftlich anerkannt. Auch in Deutschland sind derartige Kurse heute sehr gefragt. Krankenkassen bieten MBSR-Kurse zur Stressbewältigung an oder beteiligen sich an den Kosten von anderen Anbietern.
Seit einigen Jahren ist auch Achtsamkeit in der Ernährung oder bei gestörtem Essverhalten ein Thema. Achtsamkeitsbasierte Methoden sollen sowohl bei einer Überregulierung als auch bei einer Unterregulierung, zum Beispiel bei Kontrollverlust, helfen. Außerdem kann achtsames Essen ganz konkret das Essverhalten sowie die Auswahl und Mengen der Speisen beeinflussen. Bisher gibt es jedoch kein allgemeingültiges Konzept, sondern verschiedene Ansätze und Empfehlungen.
Achtsamkeit als Haltung
Achtsamkeit ist eine Frage der Haltung, die für viele von uns ungewohnt ist. Es geht nämlich nichts ums „Tun“, also irgendetwas zu verändern oder gar erzwingen zu wollen. Es geht vielmehr ums „Sein“, also darum, die inneren Ressourcen zu entdecken und sich so anzunehmen wie man ist. Diese Haltung lässt sich durch Qualitäten oder Säulen beschreiben. Jon Kabat-Zinn beschreibt in seinem MBSR-Konzept sieben Säulen. Ergänzend gibt es viele weitere Qualitäten, zum Beispiel, sich selbst gegenüber eine Haltung des Mitgefühls und der Freundlichkeit zu entwickeln. Besonders dieser Punkt fühlt sich für viele Menschen sehr fremd an.
Die 7 Säulen der Achtsamkeitsmeditation
- Nicht urteilen
Statt alle inneren und äußeren Erfahrungen ständig zu bewerten, die Rolle eines neutralen Beobachters einnehmen. - Geduld haben
Verstehen und akzeptieren, dass alles seine Zeit braucht. - Den Geist des Anfängers bewahren
Mit Offenheit und Neugier alles so betrachten als sei es das erste Mal. - Vertrauen in sich selbst haben
Auf die eigene innere Stimme hören statt Anleitungen von außen blind zu vertrauen. - Nichts erzwingen oder erstreben
Meditation als aktives Nicht-Tun begreifen und kein Ziel verfolgen, außer man selbst zu sein. - Akzeptanz lernen
Die Gegenwart annehmen, wie sie ist: Mit Schmerzen, Übergewicht oder anderem Leid. - Loslassen
Die Fixierung auf negative und positive Gedankengänge oder Gefühlslagen aufgeben und zum stillen Beobachter werden.
Meditation als Methode

Regelmäßige Meditationen dienen dazu, diese Grundhaltungen der Achtsamkeit kennenzulernen und zu leben. Am bekanntesten ist die klassische Sitzmeditation, die sich zum Beispiel auf den Atem, körperliche Empfindungen oder Geräusche fokussiert. Dabei aufkommende Gedanken werden nicht bewertet oder gar verurteilt, sondern einfach nur beobachtet. Danach wendet man sich wieder ganz dem Fokus der Meditation zu.
Dieses Bemerken, Akzeptieren und Loslassen von Gedankentätigkeit ist wichtiger Bestandteil aller Meditationen. Davon gibt es viele weitere Formen wie Gehmeditationen, Body-Scan oder achtsames Yoga. Sie lassen sich am besten in Kursen oder mit Audio-Anleitungen erlernen.
Einfache Achtsamkeitsübungen für den Alltag
Zu solchen formellen Übungen gesellen sich informelle Achtsamkeitsübungen. Sie lassen sich den ganzen Tag lang immer wieder ohne zusätzlichen Zeitaufwand einbauen. Grundsätzlich kann jede Alltagsaktivität in eine kleine Meditationen verwandelt werden: aufstehen, duschen, Zähne putzen, Schuhe anziehen, Rad fahren, das Licht einschalten und so weiter. Jeder Moment, den wir ganz bewusst erleben und nicht mechanisch ablaufen lassen, stärkt den „Achtsamkeits-Muskel“ und lässt uns den gegenwärtigen Moment intensiver spüren.
Da wir jeden Tag mehrmals essen und trinken, sind dies willkommene Gelegenheiten zum Üben. Das gilt genauso für die Zubereitung und das Aufräumen nach der Mahlzeit: Salatblätter im kaltem Wasser spülen, Teig kneten, die Suppe im Topf umrühren oder das Geschirr spülen sind wunderbare Tätigkeiten, die wir achtsam ausführen können.
Achtsamkeitskeil: STOP-, ALI- oder SARW-Technik
Wer oft und lange am Computer sitzt, kann sich durch einen regelmäßigen Gong an eine kurze Achtsamkeitspause erinnern.
Eine gute Form der Kurzentspannung ist das Innehalten und Reflektieren. Denn wir müssen nicht vom Autopiloten gesteuert auf einen Reiz mit einer direkte Reaktion antworten. Wir können den Raum dazwischen nutzen, einen Achtsamkeitskeil hineinschieben und danach bewusst entscheiden, wie wir handeln.
Diese Methode ist so simpel wie effektiv und lässt sich in vielen Situationen anwenden, nicht nur bei Stress, sondern auch in Gesprächen oder beim Essen.
- Die (Stress)reaktion durch ein „Stopp!“ unterbrechen und die Erkenntnis gewinnen: Ich könnte, muss aber nicht reagieren.
- Tief in den Bauch atmen. So beruhigt sich der Körper und entsteht eine Pause.
- Gefühle, Gedanken und Empfindungen des Körpers beobachten, ohne sie zu bewerten.
- Eine bewusste Entscheidung für eine angemessene Handlung treffen.
Als einfache Stütze für diese Technik gibt es verschiedene Merksätze.
SARW = Stoppen - Atmen - Reflektieren - Wählen
STOP = Stop - Take a breath - Observe - Proceed
ALI = Atmen - Lächeln* - Innehalten
*Das Lächeln in „ALI“ ist ein Trick, um über die Gesichtsmuskulatur dem Gehirn zu signalisieren, dass gerade etwas Lustiges oder Entspannendes passiert.
Welche Vorteile hat Achtsamkeit beim Essen?

Wer sich in Achtsamkeit übt, wird womöglich über kurz oder lang automatisch sein Essverhalten ändern. Achtsames Essen lässt sich aber auch isoliert üben. Es bedeutet, mit allen Sinnen, Gedanken und Empfindungen in diesem Moment, beim Essen und nicht irgendwo anders zu sein.
Das braucht Zeit und klappt nicht nebenbei. Auch Gespräche oder Radio lenken ab. Achtsam essen wird daher nicht bei jeder Mahlzeit möglich sein und nicht in jeder Situation. Doch selbst die neutrale Beobachtung, dass ich gerade jetzt nicht achtsam essen kann, ist bereits eine achtsame Handlung.
Achtsames Essen hat viele Effekte. Es steigert den Genusswert und die Freude beim Essen ohne schlechtes Gewissen. Es hebelt den Autopiloten aus, der uns ohne zu überlegen zugreifen lässt und gibt uns die Entscheidungsfreiheit zurück: Möchte ich wirklich eine zweite Portion oder bin ich schon satt? Brauche ich dieses Stück Torte oder eigentlich etwas anderes: Trost, Unterhaltung, eine Belohnung?
Wer achtsam isst, spürt tief in sich hinein, wer da gerade gefüttert werden möchte: der Körper oder die Seele. Achtsames Essen kann helfen, Essgewohnheiten und Verhaltensmuster zu erkennen und zu ändern. Zum Beispiel, den Teller leer zu essen oder einen knurrenden Magen zu ignorieren.
Achtsam essen ist (nicht) einfach!
Zwar gibt es jede Menge „einfacher Regeln“ für mehr Achtsamkeit beim Essen. Bei näherem Hinsehen stecken dahinter aber grundlegende Verhaltensänderungen, die alles andere als einfach sind. Jede einzelne lässt sich dennoch immer wieder ausprobieren. Am besten nach und nach statt alle auf einmal. Erfahrene Ernährungsberater*innen können diese mittels geeigneter Übungen in die Einzelberatung oder in Kurse einbauen.
Wer sich dabei die Qualitäten der Achtsamkeit bewusst macht, behält die Geduld und gibt auch bei scheinbaren Misserfolgen nicht auf. Zur Erinnerung: Auch das Bemerken, zu schnell gegessen oder nicht gründlich gekaut zu haben, ist bereits eine Achtsamkeitsübung. Hier ein paar Beispiele:
- Langsam essen
Eine der wichtigsten Übungen ist, langsam zu essen. Wer langsam isst, merkt besser, wann Sättigung eintritt. Außerdem braucht es Zeit, eine Mahlzeit oder zumindest Teile davon achtsam und mit allen Sinnen zu genießen. Kleine Bissen nehmen, das Besteck ablegen, mit der nicht-dominanten Hand oder gar mit Stäbchen essen - mit solchen Tricks lässt sich langsames Essen lernen.
- Gründlich kauen
Gründliches Kauen setzt intensive Geschmackserlebnisse frei und macht die unterschiedliche Konsistenz von Lebensmitteln spürbar. Einen Bissen fünfzehn bis dreißig Mal zu kauen, bevor man ihn hinunterschluckt, kann zu ganz neuen Eindrücken führen. Das lässt sich im Alltag natürlich nicht bei jeder Mahlzeit von Anfang bis Ende realisieren, kann aber immer wieder geübt werden.
- Den Magen angenehm füllen
Um nur so viel zu essen, dass wir uns gerade angenehm satt fühlen, müssen wir achtsam essen und gut in unseren Körper hineinhorchen. Das gelingt besser, wenn wir zwischen Magenhunger und anderen Hungerarten unterscheiden können (siehe unten). Ganz praktisch helfen dabei kleine Portionen auf kleinen Tellern oder in kleinen Bechern.
- Das Essen ehren
Gläubige Menschen bedanken sich vor dem Essen mit einem Gebet dafür. Auch beim achtsamen Essen kann sich der Blick über die eigene Person hinaus weiten: Was steckt alles in diesem einen Apfel, in diesem Stück Fleisch auf meinem Teller? So kann die Achtsamkeit eine Brücke zur Lebensmittelwertschätzung und zu einem nachhaltigen Lebensstil schlagen.
Die 7 Arten von Hunger
Magenhunger
Ein leerer Magen „knurrt“. Diesen Magenhunger stillt die richtige Art und Menge an Nahrung. Die lässt sich in einer Übung vor der Mahlzeit durch eine Bewertung des Hungers auf einer Skala von 0 bis 10 herausfinden. Und auch während der Mahlzeit hilft eine solche Einschätzung, nur so viel zu essen, bis der Magen gerade angenehm gefüllt ist.
Augenhunger
Optisch verlockende Speisen sprechen den Augenhunger an. Diese Erkenntnis macht sich die Werbung mit appetitlichen Bildern zunutze. Gut zu wissen, wenn der Magen „satt“ meldet und die Augen uns zu einem Eis überreden möchten. Den Hunger unser Augen nach Schönheit können wir auch mit einem liebevoll gedeckten Tisch und schön dekorierten Speisen stillen.
Nasenhunger
Die richtigen Düfte bewegen uns, mehr oder gar zu viel zu essen. Gleichzeitig ist unser Geruchssinn entscheidend am Geschmackserlebnis beteiligt. Wer achtsam isst und sogar mal an den Speisen schnuppert, kann den Genuss erhöhen und seinen Nasenhunger stillen.
Mundhunger
Der Mundhunger hängt eng mit dem Geschmackssinn zusammen. Er verlangt Speisen, die er individuell als wohlschmeckend empfindet. Und er fordert Abwechslung. Bewusstes Hinschmecken, das Wahrnehmen der ganzen Aromenvielfalt und der Konsistenz der Lebensmittel kann den Mundhunger stillen.
Zellhunger
Zellhunger beschreibt die Vorstellung, dass der Körper genau weiß, was wir brauchen. Bekannte Beispiele sind die Lust auf Salziges bei Durchfall, auf Süßes bei Unterzucker oder der Durst. Je genauer wir in unseren Körper hineinhorchen, desto besser gelingt es uns, vielleicht irgendwann diese Signale zu erkennen.
Geistiger Hunger
Informationen und die vielen Stimmen im Kopf prägen den geistigen Hunger: Was ist gesund, was nicht? Besser mehr oder weniger Kohlenhydrate? Die Unsicherheit angesichts der Flut an Informationen und der eigenen Bedürfnisse macht den geistigen Hunger zu einer großen Herausforderung. Meditationsübungen und achtsames Essen können den Geist beruhigen.
Herzhunger
Egal, wie gut ein Lebensmittel schmeckt: Es kann das Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Glück nicht stillen. Ein solcher Herzhunger kann auch aus dem Gefühl der Langweile oder Leere heraus und bei Stress entstehen. Folglich kann Herzhunger nur gestillt werden, indem die eigentlichen Bedürfnisse erkannt und erfüllt werden.