Kommt Ihnen Frau S. bekannt vor? Sie ist neulich von ihrem Hausarzt darüber aufgeklärt worden, dass sie ein paar Kilo abnehmen muss. Er hat sie zur Ernährungsberatung geschickt, wo ihr ein Flyer mit Ernährungstipps in die Hand gedrückt wurde. Den Flyer hat sie abends im Kreise ihrer Familie durchgelesen. Seitdem kocht sie mit weniger Fett und kauft keine Süßigkeiten mehr für die Kinder (und isst sie selber nicht heimlich). Auch vor dem Fernseher ist Naschen tabu. Innerhalb von drei Monaten hat Frau S. ihr Normalgewicht erreicht.
Willkommen im Märchen
An dieser Geschichte stimmt so gut wie nichts. Aber Gesundheits- und Ernährungsfachleute gingen jahrzehntelang (und gehen teilweise immer noch) davon aus, dass Ernährungsberatung so funktioniert:
- Eine unspezifische Aufforderung („Sie müssen abnehmen.“) oder reine Information (z. B. ein Flyer) führt zum gewünschten Handeln.
- Ernährungsberater sind für Frau S. eine Autorität, der sie einfach folgt.
- Frau S. ist selber überzeugt, dass Pfunde purzeln müssen.
- Die Familie und das sonstige Umfeld unterstützen Frau S. beim Abnehmen.
- Gesundheit oder Gewicht sind das Wichtigste für Frau S. Beziehungen, Arbeit, Finanzen und ihr sonstiges Leben haben keinen Einfluss auf ihr Essverhalten.
Willkommen in der Realität
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Heute ist klar, dass dieses Szenario meist wenig mit der Realität zu tun hat. Beratungskräfte wissen, dass sie die Lebenswirklichkeit und die Gefühlslage ihrer Klienten verstehen müssen. Nur so können sie gemeinsam daran arbeiten, dass Essverhalten erfolgreich zu verändern. Sie wissen auch, dass realistische Erwartungen entscheidend sind und dass Wertschätzung, Empathie und Echtheit von Seiten der Beratungskraft weit mehr erreichen als ein erhobener Zeigefinger. Und trotzdem fällt der Abschied von Frau S. ein wenig schwer. Denn Ernährungsberatung mit ihr könnte doch so einfach sein ...
Quelle: Therapiefall Ernährungsberatung - Update 2012