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Ernährungsarmut in Deutschland ist Realität. Beim 7. BZfE-Forum stellten Fachleute aus Wissenschaft und Praxis die Dimension des Problems heraus und diskutierten Lösungsoptionen.

T. Vollmer / BLE

"Das Thema Ernährungsarmut hat im vergangenen Jahr besonders an Aktualität gewonnen. Es ist ein kontrovers diskutiertes Thema, das auch das BMEL adressiert. Wir setzen alles daran, dass alle Menschen gesund leben und alt werden können. Die Ernährungsstrategie der Bundesregierung, die federführend vom BMEL erarbeitet wird, wird daher das Thema Ernährungsarmut aufgreifen.“

Mit diesen Worten eröffnete Eva Bell, Leiterin der Abteilung „Gesundheitlicher Verbraucherschutz, Ernährung“ im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) das 7. BZfE-Forum in Bonn. Dazu sagte Professorin Ute Nöthlings von der Universität Bonn: „Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme: Essen ist soziale Teilhabe, die stärker berücksichtigt werden sollte.“ Die Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) betonte aber auch: „Wir brauchen mehr Daten und mehr Taten.“

Unzureichende Datengrundlage

Bezüglich der Datenlage ist die Unsicherheit groß: Der Paritätische Gesamtverband ermittelt zwar regelmäßig die Armutsquote, die im Jahr 2021 bei 16,9 Prozent insgesamt und bei 21,3 Prozent bei Kindern und Jugendlichen lag (Paritätischer Gesamtverband 2023). Daten speziell zur Ernährungsarmut gibt es in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern aber bisher nicht – lediglich eine „Annäherung“ aufgrund einer Befragung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Demnach sind in Deutschland 3,5 Prozent, also rund drei Millionen Menschen, von Ernährungsarmut betroffen (FAO 2022).

Fehlende Daten sind mit ein Grund für die gesellschaftliche Negierung von Ernährungsarmut in einem wohlhabenden Land wie Deutschland. Wissenschaftlich gilt aber als gesichert, dass auch bei uns immer mehr Menschen von einer armutsbedingten Mangelernährung („hidden hunger“) betroffen sind, betonte Journalist und Buchautor Martin Rücker in seiner Einführung. Dazu zählten zum Beispiel auch Menschen mit Übergewicht und Adipositas.

Armutsspirale statt Chancengleichheit

Viele Indizien weisen auf eine Armutsspirale hin, erklärte Rücker: ArmutsbetroffenenMenschen fehlt das Geld, um sich und ihre Familien gesundheitsförderlich zu ernähren. Daher essen sie beispielsweise weniger Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Nüsse, dafür mehr preiswerte, energiedichte und nährstoffarme Lebensmittel. Diese unausgewogene Ernährung führt bei Kindern zu einer Unterversorgung mit Nährstoffen: Ihre körperliche und kognitive Entwicklung leidet, was ihre Bildungschancen verschlechtert. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Armutshaushalten auch als Erwachsene in Armut leben. „Armut und Mangelernährung bedingen sich gegenseitig“, sagte Rücker.

Gesundheitliche Folgen von Armut

Auf die gesundheitlichen Folgen materieller Armut, also dem Zustand, dass Menschen nicht genügend finanzielle Mittel haben, sich quantitativ und qualitativ ausreichend zu ernähren, wiesen auch Professorin Ulrike Arens-Azevêdo von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und Junior-Professorin Tina Bartelmeß von der Universität Bayreuth hin. „Je niedriger der sozioökonomische Status, desto ungesünder die Ernährung und desto höher der Anteil an übergewichtigen und adipösen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“, erläuterte Bartelmeß. Und Arens-Azevêdo unterstrich die Bedeutung der nicht nur ersten 1.000 sondern 7.000 Tage für die Entwicklung junger Menschen: Nährstoffdefizite in dieser Zeit führten zu verminderter Immunabwehr, reduzierter Aufmerksamkeit und geringeren Lernerfolgen sowie weniger körperlicher Aktivität. Dadurch steige das Risiko für ernährungsmitbedingte Erkrankungen in späteren Jahren. „Das wird Folgekosten haben, mit denen wir heute noch gar nicht rechnen können“, sagte Arens-Azevêdo.

Soziale und kulturelle Teilhabe

Noch weniger Beachtung findet der Aspekt der sozialen und kulturellen Teilhabe und des verbindenden Elements von Ernährung. „Gemeinsames Essen ist für uns wichtig und es ist schädlich, wenn wir auf Dauer allein essen“, mahnte Professor Achim Spiller von der Universität Göttingen. Es sei problematisch, dass im Bürgergeld bisher beispielsweise keine Mittel für einen Café-Besuch vorgesehen seien. Hier sei zu prüfen, wie sich die soziale Funktion von Ernährung bei der Berechnung des Regelbedarfs berücksichtigen lasse.

Was der Verlust sozialer Teilhabe konkret bedeutet, zeigen Social-Media-Posts unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen, die Bartelmeß vorstellte: Genuss, Beziehungsaufbau und -pflege leiden. Soziale Rollen wie die Elternrolle können nicht ohne weiteres ausgeübt werden. Plätzchenbacken, Beiträge zum Buffet beim Klassenfest, traditionelle Mahlzeiten zu Anlässen wie Weihnachten und andere kulturelle Praktiken sind oft nicht bezahlbar. Zu physischen Beeinträchtigungen durch Ernährungsarmut addieren sich somit psychische aufgrund von Sorgen, Ängsten, Scham, Depressionen und schwindendem Selbstwertgefühl.

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Die ohnehin schwierige Lage der Betroffenen hat sich durch die Inflation, insbesondere die steigenden Kosten für Energie und Nahrungsmittel, weiter zugespitzt. „Diese treffen einkommensschwache Haushalte besonders hart, denn sie haben keine Rücklagen, sondern oft eher Schulden“, sagte Dr. Andreas Aust vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. In der Folge sehen sich die Tafeln heute einer enorm gestiegenen Nachfrage durch zwei Millionen Menschen gegenüber. Die Kompensation der steigenden Armut sei aber nicht Aufgabe der Tafeln oder anderer gemeinnütziger wohltätiger Einrichtungen, sondern des Sozialstaats, erklärte Aust.

Genauso sah es auch Sabine Werth, die vor dreißig Jahren in Berlin die erste Tafel gegründet hatte. „Wir möchten keine finanziellen Hilfen, denn wir retten freiwillig Lebensmittel und geben sie freiwillig aus. Aber wir wollen keine Krisenhelfer sein.“

Gegen Armut hilft Geld

Als wichtigste Hilfe für den Weg aus der Krise fordern von Armut Betroffene wie Thomas Wasilewski, aber auch gesellschaftliche Agierende, eine Erhöhung des Bürgergelds. Diese wird unter anderem mit Berechnungen zu einer DGE-konformen Kost begründet. Dazu erläuterte Rücker: „Das im Regelsatz berücksichtigte Budget für Lebensmittel liegt unter den realen Kosten für eine gesunde Ernährung.“ Wasilewski ist Vater von drei Söhnen und aufgrund einer Herzerkrankung seit 2017 erwerbsunfähig. „725 Euro Regelsatz sofort“ fordert er und so stand es auch auf seinem T-Shirt. Mittlerweile setzt er sich offiziell als Musterkläger des Sozialverband (VdK) und Sozialverband Deutschland (SoVD) für eine höhere Grundsicherung ein: „Die 60 Euro Grundsicherung mehr, die ich ab 2024 bekomme, gleichen nur die Inflation aus und spalten die Gesellschaft. Ich erwarte aber als Erwerbsunfähiger von einer Gesellschaft, dass ich diskriminierungsfrei meine Leistungen erhalten kann.“ Das Thema Diskriminierung und Stigmatisierung liegt Wasilewski mindestens so sehr am Herzen wie der Kampf um finanzielle Hilfen.

Die Angst Leistungsbeziehender vor Stigmatisierung bestätigte Dr. Kerstin Bruckmeier vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). „Wir haben Hinweise aus Befragungen, dass viele Menschen aus Angst vor mangelndem Respekt Leistungen gar nicht erst in Anspruch nehmen.“ Ein weiteres Problem sind hohe bürokratische Hürden in der Beantragung und ein zu geringer Bekanntheitsgrad, etwa beim Bildungs- und Teilhabepaket. Nur 20 Prozent der Anspruchsberechtigten hätten ein kostenfreies Schulmittagessen für ihre Kinder nachgefragt, berichtete Arens-Azevêdo.

Kostenlose Kita- und Schulverpflegung

Arens-Azevêdo sieht in einer kostenfreien Kita- und Schulverpflegung einen wichtigen Ansatzpunkt. Die kostenfreie Verpflegung in Kitas und Schulen würde gesundheitliche und soziale Chancengleichheit für alle gewährleisten und das Problem von Diskriminierung und Stigmatisierung lösen, sagte sie. Länder wie Schweden haben die positiven Effekte in Langzeitstudien belegt: Kinder, die dort kostenloses Schulessen bekamen, waren größer, insgesamt gesünder, erzielten später ein höheres Einkommen und generierten letztendlich mehr Steuereinnahmen für den Staat. „Eigentlich führt kein Weg an einer kostenlosen Kita- und Schulverpflegung vorbei. Es ist schlimm, wie ausgehungert manche Kinder montags sind. Das zeigt aber auch, welche Möglichkeiten in dieser Maßnahme stecken“, betonte Arens-Azevêdo. In Deutschland gehen Hamburg und Berlin mit gutem Beispiel voran: So bekommen seit 2014 in Hamburg alle Kinder in Kindertagesstätten kostenfrei Mittagessen, Zwischenverpflegung und Getränke. In Berlin gibt es seit 2019 kostenloses Schulessen nach DGE-Qualitätsstandards.

Aufbau von Ernährungskompetenz

Kontrovers wird die Rolle von mehr Bildung und der Aufbau von Ernährungskompetenzen als Mittel gegen Ernährungsarmut diskutiert. „Von Armut betroffene Menschen brauchen keine Tipps von Ernährungsorganisationen, Verbraucherschützern oder den Medien, wie sie ihre Ausgaben für Lebensmittel senken. Sie sind schon Experten im Sparen“, meinte Rücker. Dennoch setzen hier viele praktische Projekte an, von denen sich zwei beim Forum vorstellten. Das IN FORM-Projekt „Tafel i(s)st gesund und nachhaltig“ leistet Bildungsarbeit direkt bei den Tafeln vor Ort. In der Pilotphase befindet sich ein großes Projekt der Verbraucherzentralen, das Menschen mit wenig oder ohne Einkommen durch Einkaufs- und/oder Kochtrainings unterstützen möchte. „Wir bekommen in den letzten Jahren tatsächlich vermehrt Anfragen von Menschen, wie man mit wenig Geld gut auskommt“, sagte Bernhard Burdick von der Verbraucherzentrale NRW. Natürlich müssten trotzdem die Transferzahlungen angehoben werden.

Dr. Andreas Aust hielt Maßnahmen für alle Menschen für sinnvoll, um die Ernährungskompetenzen zu stärken. Es dürften sich aber keine Ursachenverschiebungen oder Schuldzuweisungen an von Armut betroffene Personen einschleichen. Ähnlich sah es Professor Achim Spiller, der als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) maßgeblich an der Stellungnahme „Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen“ (WBAE 2023) beteiligt war:

„Ernährungsarmut ist ein politisches Thema, dessen sich die
Politik jetzt annehmen muss. In Deutschland wird insgesamt noch zu
sehr individualisiert.“

Fazit

Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem 7. BZfE-Forum ziehen? „Ernährungsarmut in Deutschland ist definitiv ein Thema, um das wir uns auch als Ernährungscommunity kümmern müssen“, fasste Dr. Margareta Büning-Fesel, Moderatorin und Präsidentin der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), zusammen. Damit bezog sie sich sowohl auf Forschungsprojekte und die fachliche Unterstützung ehrenamtlicher Initiativen als auch auf eine gute Wissenschaftskommunikation. Eva Zovko, Leiterin des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE), ergänzte: „Mit dieser Veranstaltung machen wir das Thema Ernährungsarmut sichtbarer. Wir werden als Bundeszentrum für Ernährung dieses wichtige gesellschaftliche Thema auf jeden Fall weiter kommunikativ begleiten.“ Das bedeutet auch, nicht nur über die von Ernährungsarmut Betroffenen zu sprechen, sondern auch mit ihnen, sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Es sei gesellschaftlich unabdingbar, die konkreten Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in allen Dimensionen von Ernährung frei von Vorurteilen zu sehen, zu verstehen und den Herausforderungen mit passender Unterstützung zu begegnen.

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Hand reicht mit Essen gefüllte Schüssel an Hand einer zweiten Person weiter 18 May
BLE

7. BZfE-Forum 2023

Ernährungsarmut in Deutschland - sehen, verstehen, begegnen

Was wissen wir über Ernährungsarmut in Deutschland, wie gehen die Betroffenen damit um und mit welchen Hebeln lassen sich die Probleme lösen? Impulse, Beispiele und Diskussionen.

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