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Bald öffnen die Vesperkirchen wieder ihre Pforten. Ihr Ziel ist: Armen und Obdachlosen etwas Freude und Hoffnung zu bereiten und die Sozialpolitik zu mehr Engagement zu mahnen.

Menschen gehen zur Kirche
Alexander Kästel

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Die Idee der Vesperkirche entstand in Stuttgart, umgesetzt wurde sie zum ersten Mal 1995 in der Leonhardskirche. Inzwischen gibt es Vesperkirchen an über 30 Orten in Württemberg, Baden und Franken. Im neuen Jahr 2017 kann die Vesperkirche in Mannheim ihr 20-jähriges Jubiläum feiern. Dies ist ein willkommener Anlass nachzufragen, wie die Menschen mit Migrationshintergrund, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, das Angebot der Vesperkirchen wahrnehmen.

In Mannheim fließen Rhein und Neckar zusammen. Hier ist einer der größten Binnenhäfen Deutschlands. Die benachbarten Wohnviertel, der Jungbusch, die Quadrate K und L, waren schon früher keine besonders gute Gegend. Hier wohnten die Armen und die ganz Armen. Die ehemaligen Hafenarbeiter sind längst weg, jetzt werden die heruntergekommenen Blocks an die jeweils neueste Welle der Armutsmigranten vermietet – gegenwärtig vorwiegend Roma aus Rumänien und Bulgarien. Hier lässt sich Arbeit und Anderes am billigsten finden. Am geringen Verdienst saugen dazu Übervorteilung und falsche Versprechungen vielerlei Art. Mannheim ist die Industriestadt im Südwesten. Sie hat die höchste Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg.

Mannheim als Stadt ist eine Neugründung des 17. Jahrhunderts auf der grünen Wiese. Fremde wurden aufgenommen und begrüßt, ob sie als Glaubensflüchtlinge oder aus wirtschaftlichen Gründen kamen. Kurfürst Karl Theodor ließ 1677 eine Konkordien- Kirche errichten, die Reformierte, Lutheraner und Katholiken nutzen sollten. 1689 wurde diese erste Konkordien-Kirche im Krieg zerstört. Die heutige Konkordien-Kirche steht im Quadrat R2. Sie wurde 1684 errichtet.

Ein Beitrag zum Zusammenkommen ist die „Meile der Religionen“. Alle zwei Jahre, am Mittwoch vor Himmelfahrt, werden 100 Tische vom Tor der Konkordien-Kirche bis zur Synagoge aufgebaut. Evangelische und katholische Kirchengemeinden, die Altkatholiken, die Synagoge und die Moscheen tragen Spezialitäten aus ihren Kulturen zusammen. Alle sind zum Essen und Feiern und zum interreligiösen Dialog eingeladen.

Eine Gemeinsamkeit der abrahamitischen Religionen ist das Gebot der Nächstenliebe. Die Evangelischen Kirchen nennen es den diakonischen Auftrag. 1997 rief der damalige Stadtdekan von Mannheim zu einer sozialpolitischen Offensive auf. Armut, gerade in der Innenstadt, müsse sichtbar und überwunden werden. In diesem Rahmen wurde auch die Vesperkirche an der Konkordien-Kirche angestoßen.

Inzwischen ist die Vesperkirche eine feste Institution in der Mannheimer Innenstadt geworden. Sie wird vom 6. Januar bis Anfang Februar von rund 50 Helfern pro Tag organisiert. Die Kirchenpforten öffnen sich für die Gäste ab 11 Uhr. Im Kircheninneren stehen an den gedeckten Tischen rund 180 Sitzplätze zur Verfügung. Da pro Tag bis zu 600 Gäste kommen, gibt es mehrere Schichten bis zur Schlussandacht um 14:30 Uhr, anschließend gibt es Kaffee und Kuchen und zum Aufbruch einen Vesperbeutel. Die Vesperkirche schließt um 15 Uhr. Ein Essen kostet vier Euro. Wer diesen Betrag nicht aufbringen kann, zahlt einen Euro oder gar nichts. Bedürftige und Nichtbedürftige sind gleichermaßen willkommen. Das Gespräch und die Geselligkeit stehen gleichberechtigt neben dem Essen. Armut geht oft mit Einsamkeit einher, manchmal auch der Wohlstand. Vesperkirche heißt deswegen auch, miteinander ins Gespräch zu kommen: die aus den Sozialblocks im grauen Norden mit denen aus den Einfamilienhäusern im grünen Osten, Konfirmanden mit Senioren, Alteingesessene mit Migranten.

Seelsorge und Sozial-Beratung sind organisiert, falls notwendig helfen auch Ärzte und Johanniter. Geliefert wird das Essen vom Thomashaus, einem evangelischen Altersheim mit großer Küche. Es gibt vornehmlich solide deutsche Küche, die sich unter den Teilnehmern großer Beliebtheit erfreut. Sachspenden kommen von Bäckern, vom Großmarkt und anderen Sponsoren. Die Geldspenden stammen von einer breiten Basis. Während der Januarwochen gibt es ein kulturelles Rahmenprogramm mit Benefizkonzerten. Vesperkirche soll staatliche Sozialpolitik nicht ersetzen, sondern ein entschiedenes Vorgehen gegen Armut anmahnen. Es ist nicht das ganze Jahr Vesperkirche. Vielmehr sind Gesellschaft und Staat aufgerufen, Armut und Ernährungsarmut dauerhaft zu überwinden. Vesperkirche ist in dieser Hinsicht Winter für Winter eine Bestandsaufnahme und ein Indikator für Wachstum oder Rückgang von Armut in unseren Städten.

Generell ist die Anzahl der Besucher der Vesperkirche in den 20 Jahren ihres Bestehens gewachsen. Anfänglich kamen etwa 60 Besucher am Tag, jetzt sind es fast 600. Zu diesem Wachstum mag beigetragen haben, dass sich die Quatlität des Angebots herumgesprochen hat. Das Wachstum ist aber zu einem guten Teil „nachfrageinduziert“. Die Anzahl der Armutsgefährdeten hat in den vergangenen Jahren nicht nachhaltig abgenommen. Die Verdienstmöglichkeiten für diese Gruppe sind weiterhin bescheiden.

Im Blickfeld der City-Kirchengemeinde in Mannheim lassen sich vier Gruppen unterscheiden. Da sind zunächst einmal die Obdachlosen, die in der Innenstadt „Platte machen“, in Heimen oder im Freien nächtigen. Viele sind suchtkrank: Alkohol oder andere Drogen. Diese Gruppe gibt es schon seit Jahrzehnten in unseren Fußgängerzonen und am Rande unserer Innenstädte, mehr oder weniger geduldet oder akzeptiert. In den letzten Jahren hat sie immense Verstärkung von gestrandeten Männern erhalten, vor allem aus Polen und Russland. Wer Tag und Nacht draußen ist, wer Drogen konsumiert, wer unter verschleppten Infektionen leidet, der braucht ein kräftiges Essen. Es darf süß sein, es darf fett sein. Dem Körper tut es gut, wenn kräftige Hausmannskost vom Thomashaus kommt: gekochtes Gemüse, Rouladen, Kartoffeln. Wer auf der Straße lebt, isst eher kalt: vom Discounter, vom Supermarkt, vom Bäcker oder er isst Fast Food. Eine vollwertige Ernährung ist das nicht, erst recht nicht angesichts der Belastung, die das Leben auf der Straße und mit den Drogen bedeutet.

Armut und Einsamkeit gibt es nicht nur bei den Bettlern in der Fußgängerzone. Auch in den Wohnungen der Hartz-IV-Empfänger und Kleinrentner reicht es oft nicht für die täglichen Bedürfnisse, Fahrgeld, Essen und Heizen. Viele von ihnen, insbesondere Ältere, aus den innenstadtnahen Wohnbezirken kommen zur Vesperkirche. Manche gehen sogar vom Waldhof in die Quadrate, nehmen einen weiten Fußmarsch auf sich, wenn sie das Fahrgeld für die Straßenbahn nicht aufbringen können. Auch hier wird die klassisch deutsche Küche der Vesperkirche wertgeschätzt.

Die Gemeinden aus Mannheim spenden Kuchen, auch Helfer bringen nach Möglichkeit Selbstgebackenes mit, den es zum Nachtisch gibt. „Wer von Euch hat in den letzten drei Monaten ein Stück selbstgebackenen Kuchen gegessen?“ Die Antwort auf diese Frage ist der zuverlässigste Indikator dafür, ob jemand in Armut lebt oder nicht, erklärt die Diakonie-Pfarrerin Anne Ressel. Wer selbstgebackenen Kuchen isst, der hat eine Küche mit Backofen, lebt nicht auf der Straße, sondern in einem verlässlichen sozialen Verband. Wer backt schon einen Kuchen für sich allein? Er hat genug Einkommen, um sich die Zutaten zu kaufen, verfügt über genügend Alltagskompetenz und ist rüstig genug, um einen Kuchen zu machen. Für die meisten Besucher der Vesperkirche ist der Kuchen zum Nachtisch das Highlight.

Roma kommen kaum zum Essen in die Konkordien-Kirche. Sie schätzen aber die Sachspenden, wie Schlafsäcke oder Kleidung. Vielleicht haben sie hinsichtlich der Speisen andere Vorlieben, vielleicht bekommen sie Essen woanders oder sie erhalten es als Geschenk. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass sie nicht evangelisch sind.

Im Herbst 2015 kamen fast eine Million Menschen nach Deutschland, vornehmlich aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Im Januar 2016 machte sich dieser Zuzug in der Vesperkirche noch nicht bemerkbar. Die Verpflegung fand in den Unterkünften für die Neuankömmlinge statt. In der sozialen Arbeit der City-Gemeinde Mannheim stellte sich heraus, dass Syrer und andere aus dem Nahen Osten gerne die heimischen Spezialitäten kochen. Dazu ist Hilfe willkommen: zur Beschaffung der Zutaten, beim Bereitstellen von Küchen und Essräumen. Ansonsten besteht eher der Wunsch, den Einheimischen etwas von ihrer Gastfreundschaft zurückzugeben, eben auch damit, dass man sich beim Kochen und Bewirten für alle einbringt.

Freilich ist das ursprüngliche Ziel die Kernaufgabe der Vesperkirche geblieben: in den deutschen Städten den Armen und Obdachlosen für ein paar Wochen ein bisschen mehr Freude und Hoffnung zu bereiten und gleichzeitig die Sozialpolitik zu mehr Engagement zu mahnen. Das hat eher an Wichtigkeit gewonnen. Schon seit Jahrhunderten ist Mannheim ein bevorzugtes Ziel der Migration, musste man sich um Eintracht bemühen. Auch die heutige City-Gemeinde mit der namensgebenden Konkordien-Kirche stellt sich mit ihrer Vesperkirche dieser Aufgabe.

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Der Autor

PD Dr. Rainer Hufnagel

Hochschule Weihenstephan-Triesdorf Fakultät Landwirtschaft