Textversion Audio "Foodsteps" – Folge 6

Ein Herz und viele Ziegen

Ein Mann und eine Frau betrachten Ziegen in einem Melkstand. © BLE, Claudia Eck

Foodsteps Folge 6: Ein Herz und viele Ziegen

“Mir gefällt die Vielseitigkeit. Auf der einen Seite das Kommunikative auf dem Markt und dann die Konzentration in der Käserei oder beim Melken." (Sabine Jürß)

Sebastian H. Schroeder:

Hi, Sebastian hier. Bei so manch einer Geschichte merkt man ja erst mit ein wenig Abstand, dass sie viel mehr bedeutet, als man im ersten Moment gedacht hat. Man denkt, doch ja, hier geht es ja eigentlich um die Handlung, so und so, aber eigentlich geht es um etwas viel Größeres, etwas Universelles, das uns alle betrifft. Die heutige Geschichte ist auch so eine. Ich habe lange geglaubt, es geht hier um Ziegen, die Produktion von Milch und Ziegenkäse. Aber im Kern geht es darum, wie wir zukünftig miteinander umgehen möchten. Es geht um unser Zusammenleben zwischen Mensch und Tier, aber auch zwischen Mensch und Mensch. Es geht um Gemeinschaft, Zusammenhalt, Wertschöpfung und wie wir das erreichen können.

Heute bin ich in Münster bei Sabine Jürß.

Sabine Jürß:

Meine Käserei duftet fein nach Milchsäure. Wenn du richtig schnüffelst und riechst, riechst du leichte Milchsäure hier.

Sebastian H. Schroeder:

Sie ist seit über 27 Jahren überzeugte Ziegenhalterin und produziert auf ihrem kleinen Hof Ziegenkäse nach französischer Art.

Sabine Jürß:

Wir machen ja Methode lactique. Das ist praktisch der ungereifte Frischkäse, der nach zehn Tagen etwa leicht gereift mit einer Milchschimmelrinde oder Hefe sich weiterentwickelt.

Sebastian H. Schroeder:

Sie ist davon überzeugt, dass gute Produkte nur mit absoluter Hingabe entstehen und es dafür Menschen braucht, die zusammenarbeiten, anstatt sich gegenseitig aufzuhalten.

Sabine Jürß:

Ich bin ein Mensch, der produziert Käse. Ich will gerne viel Käse produzieren. Leute, die Papier produzieren, wollen jedes Jahr mehr Papier produzieren. Das ist diesem Arbeitsprozess immanent.

Sebastian H. Schroeder:

Ich bin auf einer Reise, um herauszufinden, wie es in Deutschland so ums Essen steht. Und auf dieser Reise ist diese Folge wieder eine ganz besondere eigene kleine Reise. Von den Ziegen zum Markt zum Quatschen im Restaurant.

Sabine Jürß:

Mir gefällt die Vielseitigkeit. Auf der einen Seite das Kommunikative auf dem Markt und dann die Konzentration in der Käserei oder beim Melken.

Sebastian H. Schroeder:

Und eben diese Vielseitigkeit, die habe ich miterleben können. Mein Name ist Sebastian H. Schroeder und du hörst Foodsteps: Nachhaltigkeitsstorys aus dem Bundeszentrum für Ernährung. Produziert von Subtext Stories, Folge 6: „Ein Herz und viele Ziegen“.

Ich stehe zwischen Ziegen und Stroh. Unmittelbar mit meiner Ankunft hier bei Scellebelle in Münster wurde ich eingespannt ins Tagesgeschehen. Ich soll bitte einmal einfüttern und durchfegen, während Sabine die Ziegen zusammentreibt zum Melken.

Sabine Jürß:

Auf hier. Ab da. Hey, Litschi. Gib Gas.

Sebastian H. Schroeder:

Scellebelle ist der Name von Sabines Käserei, Hof und auch vom Käse selbst. Wobei Hof nicht ganz korrekt ist. Ich glaube, Stallungen wäre korrekter. Zwischen ihren Weiden hat sie mehrere große Freiluftställe gebaut. Im Grunde ist es ein langes Holzdach mit Seiten und Rückwänden. Die Tiere können also 24 Stunden am Tag in der frischen Luft sein. Alles ist ziemlich gemütlich mit Stroh ausgelegt. Ich könnte mich da auch selber wunderbar reinfläzen. Hier können die Tiere sich noch aus dem Weg gehen, wenn sie keine Lust aufeinander haben. Hinten ist dann auch noch eine Klappe zur Weide, falls die Tiere lieber grasen wollen.

Sabine Jürß:

Alles, was du da hinten siehst, darf ich beweiden.

Sebastian H. Schroeder:

Okay.

Sabine Jürß:

Also richtig, richtig viel.

Sebastian H. Schroeder:

Bis zum Wald da hinten, ja?

Sabine Jürß:

Absolut, bis zum Wald, also sehr luxuriös.

Sebastian H. Schroeder:

Im ersten Stall wohnen die Ziegen, dahinter die Lämmchen und ganz hinten die Pferde. Die hält sich Sabine aber nur als Hobby, so als Ausgleich zur Arbeit. Vor den Ställen stehen zwei große Kühlcontainer. Darin macht Sabine ihren Ziegenkäse.

Sabine Jürß:

Das sind die Käse, die noch relativ jung sind, die noch nicht umgebaut sind, sind hier auf dem Tisch. Und wir werden eben schnell die gekräuterten „Briques garrigues“ machen – das sind Briques, die ich gerne auch zum Wochenende verkaufen möchte.

Sebastian H. Schroeder:

Die sind so groß wie so ein Kresse-Eimerchen.

Sabine Jürß:

Ja, das ist „Briques garrigues“, also sind so kleine Ziegelsteine praktisch.

Sebastian H. Schroeder:

Und „Briques garrigues“ klingt nicht nur französisch, sondern ist es auch. Sabine ist aber froh, selbst hier in Münster zu produzieren.

Sabine Jürß:

In Frankreich produzieren die Kollegen ja immer Traditionskäse. Die haben ja nicht ganz so viele Möglichkeiten, sich auszuprobieren wie ich, weil die Kunden traditionelle Käse verlangen. Also, die wollen dann ihren Käse haben, den sie seit Generationen schon essen, der sein Siegel hat. Und ich kann unheimlich viel experimentieren. Ich kann ja mit diesen französischen Käsen machen, so ein bisschen was ich will, weil von mir hier nicht verlangt wird, ein bestimmtes Label zu erfüllen.

Sebastian H. Schroeder:

Und daher kann sie auch einfach mal mit Kräutern im Frischkäse herumprobieren. So entstehen wiederum ganz neue Traditionen, denn ihre Kunden wissen auch schnell, was gut ist. Und sie hält schon seit über 27 Jahren Ziegen, wenn auch nicht die ganze Zeit hier in Münster. Sabine ist eine echte Marke, ehrlich und direkt von der allerersten Minute an. Und eine Frau, die einfach macht.

Sabine Jürß:

So, raus mit uns. Jetzt machen wir Melkerei. Das war Käserei.

Sebastian H. Schroeder:

So, und dann ging es ohne Widerrede raus, direkt zum Melken, wo mir Sabine erzählte, warum sie die Arbeit mit den Tieren so liebt.

Sabine Jürß:

Die merken genau, die hören mich hier morgens und mein Schritt ist anders. Dann wissen sie, sie können weiterschlafen. Die wissen auch, ob ich gestresst bin oder nicht, weil dann funktioniert gar nichts mehr. Dann sind die total verunsichert, wenn ich entnervt bin oder so, wenn ich so unter Strom bin. Das merken die genau und dann wollen die nicht mitarbeiten, weil dann denken die, es gibt gleich Stress. Die sind total auf mich eingespielt. Die kennen meine Zustände manchmal besser als ich selbst.

Einfach, du musst bei dir sein, du musst sicher sein, du musst wissen, was du tust und dann funktioniert der Rest. Also, das ist das Schöne mit Tieren. Und deshalb brauche ich das auch immer zum Entgiften, wenn ich vom Markt komme. Dann weiß ich genau, hier mache ich mein Ding. Ich weiß, wie es funktioniert. Ich muss nicht verkaufen und kommunizieren. Das ist wirklich eine ganz hervorragende Work-Work-Balance. Und ich glaube, ich könnte das eine nicht gut ohne das andere.

Sebastian H. Schroeder:

Sabine ist in den 60ern in Wiesbaden aufgewachsen. Ihre Mutter kam vom Weingut, wusste also, was Landwirtschaft bedeutet, hatte dieses Leben aber schon lange Zeit an den Nagel gehangen. Sabine wuchs eher mittelständisch auf. Gutbürgerlich, ordentlich. In der Schule flogen ihr die guten Noten förmlich zu. Sie war jemand, die studieren sollte. So hatten die Eltern das vorgesehen. Als Teenagerin fuhr sie dann, um das Französisch zu verbessern, auf Studienfahrt nach Frankreich.

Sabine Jürß:

Und dann konnte ich mal so einen Schüleraustausch machen und war im Rahmen dessen in Frankreich. Und dann haben wir Bauern interviewt. Das war so unser Projekt. Wir sind dann also zu den provenzalischen Bauern und haben die interviewt. Und das war wirklich sehr witzig. Und unter anderem waren wir dann auch auf dem Ziegenbetrieb und hatten da eine Degustation, also Käseprobe. Und ich habe gedacht, wie geil ist das? Also der Käse war gut, die Leute waren nett. Wir haben an einem – das werde ich nie vergessen, das war so schön – wir haben an einem langen Tisch gesessen unter Platanen in dieser provenzalischen Sonne. Also Frühsommer war das, glaube ich, Frühling, Frühsommer. Und da habe ich gedacht, das machst du mal.

Sebastian H. Schroeder:

Wie alt warst du da?

Sabine Jürß:

Elfte Klasse. Wie alt war ich da? 15 oder was. Auf jeden Fall, du warst in einem fremden Land, du hast dich mit Leuten ausgetauscht über ihren Alltag, über ihre Arbeit und du warst sofort nicht mehr rein touristisch, sondern du warst dazwischen. Also du bist eingetaucht und hast die Leute wirklich wahrgenommen mit dem, was sie machen und was sie arbeiten. Und das hat mich total angesprochen. Das hat bei mir Widerhall gefunden oder wie immer man es nennen will. Und das hat mich dann nicht mehr verlassen, Sebastian. Das hat mich einfach nicht mehr verlassen.

Sebastian H. Schroeder:

Ja, aber natürlich musste sie erst einmal die Schule zu Ende machen, um diesem Ruf zu folgen. Mit 18 Jahren, gerade mit dem Abitur in der Tasche, ist sie dann für drei Monate auf einen Hof nach Schleswig-Holstein gegangen. Nicht ganz Frankreich, aber immerhin schon mal Landwirtschaft. Und zwar, um dort ein Praktikum zu machen. Ganz zum Missfallen ihrer Eltern.

Sabine Jürß:

Mein ursprünglicher Gedanke nach dem Abi war, du machst irgendwas Landwirtschaftliches. Und dann bin ich auf einen Betrieb gegangen in Schleswig-Holstein für ein Praktikum drei Monate. Ich war auch sehr jung, also ich habe kurz vor 18 Abi gemacht und habe da ein bisschen gejobbt und bin dann in dieses Landwirtschaftspraktikum gegangen und habe gedacht, du guckst jetzt mal, wie sich das anfühlt, also richtig ernsthaft. Und das war ein Betrieb mit Kühen, mit Schweinen, sehr breit aufgestellter Betrieb in Schleswig-Holstein. Ziemlich heftiger Chef. Der hat gedacht, dieser Einser-Abiturientin will ich jetzt mal zeigen, dass sie nichts kann. Das war so sein Ansatz. Das habe ich damals bei der Vorstellung, Entscheidung nicht so wahrgenommen. Da habe ich den vielseitigen Betrieb gesehen. Aber so war der Typ. Das war kein angenehmer Mensch. Und das war auch so.

Also, ich bin in diese Familie gekommen. Du hast dann in der Familie in einem Zimmer gelebt und das Badezimmer mit allen geteilt. So war das eben damals. Und ich war rausgerissen aus meinem politisch-intellektuellen Wiesbaden. Ich wusste grob, wie man Trecker fährt, wie man dies macht und wie man das macht. Hatte aber diesen Alltag nie gelebt. Der Hof war so auf den ersten Blick so ein bisschen klassizistisch, ganz nett, mit weißen Säulen davor. Und dahinter, typisch Schleswig-Holstein, war so ein Kuhstall mit angebundenen Kühen – also mehrere Reihen mit angebundenen Kühen. Und dann hier noch ein Schott und da noch eine Bruchbude. Und da hast du eine Tür aufgemacht, da waren Kälber drin. Und dahinter waren die Schweine. Das war alles billig. Nochmal dran gebaut, nochmal was hingeflickt. Also es war wirklich voll und matschig. Und zwar im Winter war es schon ziemlich extrem.

Und ich bin direkt am Anfang krank geworden. Ich hatte eine gnadenlose Magen-Darm-Grippe. Ich habe gedacht, ich fliege auseinander. Und konnte eine Woche praktisch gar nicht arbeiten, was für diesen Bauern natürlich ein Unding war, dass da jemand ein Zimmer belegt und nicht arbeitet. Auf jeden Fall war dieser Einstieg in die Welt knochenhart. Also ich habe wirklich zwischendurch gedacht, was machst du hier eigentlich? Und dann habe ich aber langsam über den Rhythmus, übers Melken – ich war dann für die Kälber zuständig – ich habe wirklich diese Herausforderung angenommen, so stückweise. Ich habe mich dann langsam wieder erholt und mich an dieses komische Essen gewöhnt, was ganz anders war, als ich kannte und an alles irgendwie. Und habe dann in diesen Rhythmus dieses Betriebes reingefunden.

Und bin dann auch zur Landjugend gegangen, habe Gleichaltrige kennengelernt, die völlig anders ticken, super solidarisch miteinander waren, aus unterschiedlichsten Bildungsniveaus kamen, aber zusammen gefeiert haben. Ich habe selten so viel Spaß gehabt beim Feiern wie in dieser Landjugend. Also, wo du auf Tischen tanzt und irgendwie als Gewinn eine Palette Jogurt gewinnst bei irgendeiner Tombola und die dann teilst. Und morgens zum Spiegeleieressen auf irgendeinen Betrieb gehst. Dann nach Hause gehst, sagst, ist ja schon gleich Melkzeit, und direkt anfängst zu melken. Das war großartig. Das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht.

Ich weiß noch, irgendwann habe ich den Kopf an die Kuh, diese dampfende, warme Kuh gelegt, den Kopf ran gelegt. Das war mit Eimern, haben wir gemolken. Also du hast diese 20 Liter Eimer dann immer noch zur Sammelstelle im Gang geschleppt und ausgekippt. War wirklich anstrengend. Und ich hatte diesen Kopf an der Kuh und gedacht, ich schlafe jetzt gleich ein. Aber das hast du hinter dich gebracht und dann war das Melken fertig. Und dann konntest du dich auch hinlegen, wenn es Samstag oder Sonntag war. Und du hast dich da durchgeschafft und es war großartig. Es war einfach klasse.

Sebastian H. Schroeder:

Und dort auf diesem Hof hatte sie ein einschneidendes Erlebnis beim Grubbern. Grubbern ist das Einebnen oder Glattmachen mit so einer Art Zinkenhaken, den man an den Traktor hängt.

Sabine Jürß:

Und ich erinnere mich an eine Sache. Es war so verwehender Schnee. Und du hast immer gesehen, wo du schon warst, weil der Schnee da etwas dünner lag. Und ich musste diesen Acker grubbern und es war jottwehdeh zwischen irgendwelchen Knicks im Nirgendwo. Auf diesem Acker war ich mit dem Grubber und ein paar Krähen. Das war alles. Und ich habe gedacht, ich mache den Acker zu Ende. Es gab ja damals noch keine Funktionskleidung. Da bin ich zwischendurch an den Auspuff, habe meine Hände gewärmt, damit die nicht völlig abfallen, habe dann weiter gegrubbert und ich habe gedacht, ich grubber das fertig. Es gibt da gar kein Vertun. Und am Ende schlug das Wetter um. Es war ein kalter, schöner Wintertag und ich hatte den Acker fertig. Und das war so geil. Das kann man gar nicht anders nennen. Das war wirklich das Gefühl, dass ich gemerkt habe, das, was mir immer leichtgefallen ist, das Schulische, das hatte für mich viel weniger Wert, weil das war ja nicht schwer. Und ich habe das geschafft. Das hast du ja häufig in der Landwirtschaft, dass du irgendwas machst und das Wetter kommt dir quer. Aber dass du es am Ende geschafft hast. Es war so ein gutes Gefühl. Ich habe mich so lebendig gefühlt. Ich habe mich so durch und durch lebendig gefühlt. Und ich glaube, ich bin grinsend nach Hause gefahren. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern. Ich habe dann den Grubber ausgehoben, bin nach Hause gefahren und habe gedacht, ja, das war es. Und das war ein prägender Moment.

Sebastian H. Schroeder:

Und wenn nicht schon nach dem Besuch in Frankreich, dann war nach diesem Erlebnis für ihr Herz bereits klar, dass es für sie keinen anderen Weg als in die Landwirtschaft gab. Für den Kopf allerdings stand das noch nicht ganz so fest. Da waren ja auch noch diese Stimmen aus Wiesbaden in ihrem Kopf. Also beschloss sie, zunächst Französisch und Publizistik zu studieren. Immer im Fokus, dass sie damit als Journalistin ja auch über Landwirtschaft berichten könne.

Sabine Jürß:

Es wurde mir aber schnell langweilig, ich habe immer noch nebenher geritten. Ich habe einfach gemerkt, ich bin kein unintellektueller Mensch, aber ich brauche was, was mich erdet. Und dann habe ich als Betriebshelferin gearbeitet eine Zeit lang. Ich habe mich orientiert, ob ich jetzt Tiermedizin machen will oder was ich jetzt will.

Sebastian H. Schroeder:

Und sie wollte Landwirtschaft. Von 1983 bis 86 hat sie dann auch endlich Landwirtschaft studiert und zwei Jahre später die ersten Ziegen gehabt. Bereits früh ist sie dann auch einem der großen Bio-Verbände beigetreten und hat sich zertifizieren lassen, weil sie die Werte geteilt hat und so eine regionale Anbindung bekam. Über die Jahre und Jahrzehnte hat sie seitdem immer Bio produziert.

Sabine Jürß:

Das war für mich immer der einzige Weg, das zu machen. Also ich weiß nicht, ob ich mich heute nochmal zertifizieren lassen würde, mit dem ganzen Theater, was dranhängt. Aber so wie ich arbeite, würde ich immer arbeiten.

Sebastian H. Schroeder:

Doch je weiter die Bio-Verbände mit ihren Siegeln in der Mitte der Gesellschaft ankamen, desto weniger die „Bio-sind-alle-Spinner-Plakette“ darauf war – wie noch in den 80ern – desto weniger fand sich Sabine darin wieder.

Sabine Jürß:

Die Spinnerplakette ist runter. Also völlig, das ist inzwischen ganz klar ökonomisch interessant, Bio zu machen. Konventionelle Betriebe fragen dich heute an und fragen, was muss ich ändern, damit ich so vermarkten kann. Also das ist ganz klar. Auf der rein emotionalen Ebene freue ich mich über jedes Tier, was Bio gehalten wird und jeden Quadratmeter, der aus der konventionellen Produktion rausgeht. Aber es gibt ja nie eine Wirkung ohne eine Gegenwirkung. Also das hat ja immer auch alles Folgen. Und Bio in Discountern ist viel Greenwashing, sehr günstige Produkte. Ich ärgere mich häufig über die Verbände.

Sebastian H. Schroeder:

Sie erzählt mir zum Beispiel von einem Besuch beim Discounter, wo sie immer ihre regional erzeugte Bio-Milch mit Bio-Verbandslogo kauft. Und da ist ihr in der Eile etwas durcheinandergeraten.

Sabine Jürß:

Also selbst mir ist das neulich passiert. Ich hatte einen totalen Heißhunger auf Hackbällchen, hatte irgendwie noch eine Viertelstunde, habe Hackfleisch gekauft, weil ich dachte, die haben ja die Milch, dann werden die auch das Hackfleisch, das Rinderhack von den Betrieben nehmen. Irgendwie habe ich gedacht, das gehört ja zusammen.

Sebastian H. Schroeder:

Dementsprechend ist sie auch davon ausgegangen, ohne sich zu viel damit zu beschäftigen, dass auch das Fleisch ganz sicher aus dieser Produktion kommt. Ein Missverständnis, das bei ihr für einigen Ärger gesorgt hat.

Sabine Jürß:

Dann gucke ich an der Kasse und dann sehe ich irgendwie im QR-Code verschwunden, irgendwie übergeklebt, unten stand was mit Deutschland. Zu Hause habe ich mir das angeguckt – ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste und mit meiner Brille genau dahin zu gucken, fällt mir auch nicht mehr leicht. Dann habe ich zu Hause mal richtig nachgeguckt. Dann stand unter diesem verschwurbelten Druck da: „geboren in Spanien“, „aufgezogen in Spanien“, „geschlachtet in Spanien“ und unten drunter lesbar war „verpackt in Deutschland“. Da ist mir doch die Hutschnur hochgegangen und in dieser Geschichte ist alles drin. Ich habe im Zuge dessen erstmal meine Bioland-Schilder auf dem Markt in der ersten Reaktion alle abgebaut.

Sebastian H. Schroeder:

Weil sie, wie sie sagt, mit den großen Verbänden nicht mehr identifiziert werden möchte.

Inzwischen sind wir mit dem Auto auf dem Weg zum Markt. Auf dem Münsteraner Marktplatz, knapp 100 Meter vom Dom entfernt, verkauft sie jeden Mittwoch, Freitag und Samstag ihren Käse. Auch dort hat sich viel für sie verändert, seit sie hier vor zwölf Jahren durch Zufall einen der beliebten Marktstände ergattern konnte.

Sabine Jürß:

Ich habe mich eigentlich aus allen Ehrenämtern zurückgezogen. Ich habe früher sowas gerne immer mitgemacht. Aber ich habe einfach beschlossen, das müssen ja auch nicht alte Leute machen. Das sollten ja irgendwie eher junge Leute machen. Und hatte mir eigentlich geschworen, sowas nicht zu machen, bis die Gemeinschaft mich gefragt hat, kannst du dir nicht vorstellen, das zu machen.

Sebastian H. Schroeder:

Die Gemeinschaft, von der sie hier gerade sprach, ist eine noch junge Vereinigung aus Berlin. Die Gemeinschaft ist ein Netzwerk von handwerklich arbeitenden Lebensmittelproduzent*innen. Ziel des Vereins ist die Vernetzung untereinander, um so auf der einen Seite Synergien zu schaffen und auf der anderen Seite Ideen auszutauschen, wie man seinen eigenen Betrieb weiterentwickeln könnte. Mittlerweile hat die Gemeinschaft über 200 Mitglieder in ganz Deutschland verteilt. Und die ist dann also irgendwann an Sabine herangetreten. Und wie das war, das erklärt sie mir auf dem Weg zum Stand.

Sabine Jürß:

Ich bin dann angesprochen worden für den EssKulturWandel, den ich ganz fantastisch finde.

Morgen! 

Weil das eben ermöglicht, dass Leute mal auf die andere Seite vom Zaun gucken.

Guten Morgen, Maria, Ludger, schön, dass ihr wieder da seid. Wolltet ihr heute was, Maria? Kriegen wir hin.

Das ist ein Saisonstand. Maria macht das schon ihr Leben lang, kommt immer mit ihren eigenen Produkten.

Wo waren wir? Es ist immer etwas sprunghaft, wenn man über den Markt läuft.

Sebastian H. Schroeder:

Ja, das ist okay.

Sabine Jürß:

Ja, genau, der EssKulturWandel. Und das finde ich einfach was total Positives.

Moin! 

Weil, ich bin ja nicht so ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Hof und Platz für Praktikanten, die da wohnen können. Und dann diese Möglichkeit, dass Leute auf den Hof kommen, dass das finanziert wird, dass die sich das leisten können, dass ich mir das leisten kann, dass jemand mal ein, zwei Wochen mitläuft. Weil von ein, zwei Wochen mitlaufen habe ich ja keine Hilfe, sondern im Grunde genommen – weil man auch viel redet und viel erklärt – ist es eine zusätzliche Arbeitsbelastung.

Sebastian H. Schroeder:

Über diese Gemeinschaft und ihren sogenannten „EssKulturWandel" wollte ich mehr wissen. Und weil Sabine das im Vorhinein schon geahnt hat – also dass ich mehr über die Gemeinschaft erfahren wollen würde – hat sie Julia, eine der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen von „Die Gemeinschaft“ aus Berlin eingeladen, um irgendwann am Tag zu uns zu stoßen. Julia haben wir dann, nachdem der Marktstand aufgebaut war, in einem nahegelegenen Restaurant, dem Rotkehlchen, getroffen. Denn dort wird auch Sabines Käse verkostet.

Julia Klink:

Ich bin Julia, ich bin Teil des Teams von „Die Gemeinschaft“. Und wir sind vor allem ein Netzwerk fürs Netzwerk. Das heißt, uns geht es weniger darum, nach außen Verbraucher*innen darüber aufzuklären, welche Produkte sie essen sollten, sondern uns geht es vor allem darum, dass wir wirklich entlang der gesamten Lebensmittelwertschöpfungskette Menschen zusammenbringen; Räume schaffen, in denen Austausch stattfinden kann, in denen Inspiration stattfinden kann, in denen Wissen getauscht werden kann. Und indem wir wirklich ermöglichen, dass Produzent*innen, Gastronom*innen, Bäcker*innen etc. zusammenkommen können und am Ende mehr Kooperation stattfindet. Weil wir daran glauben, dass das Essen nicht erst beim Teller anfängt, sondern dass es eigentlich ein ganz langer Prozess ist, der dahintersteht.

Sebastian H. Schroeder:

Und da möchten sie also vernetzen. Nun ist es natürlich so, dass in jeder Region in Deutschland ganz andere Themen interessant sind. Während in Brandenburg vielleicht die Resilienz gegen die Dürren vorrangig Thema ist, könnte es im Münsterland der fehlende Austausch und in Freiburg etwa fehlende Infrastruktur sein. Mal so daher gesprochen.

Julia Klink:

In jeder Region gibt es ganz unterschiedliche Themen. Personen sind ganz unterschiedlich vernetzt. Es gibt unterschiedliche Bedürfnisse, unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen auch. Und deswegen haben wir einfach gemerkt, dass es sehr hilfreich ist, für die Leute vor Ort wirklich auch mit anderen ins Gespräch zu kommen. Weil wir häufig die Erfahrung machen, dass man Betriebe vom Hörensagen kennt, aber häufig gar nicht der persönliche Kontakt besteht. Und bei den Netzwerktreffen versuchen wir quasi wirklich, dass alle sehen, wer ist eigentlich in der Region, was machen die Jeweiligen und welche Themen teilen wir eigentlich gerade und wie kommen wir da weiter?

Sebastian H. Schroeder:

Und vor knapp drei Jahren kam der Verein mit diesen Gedanken auf Sabine zu.

Sabine Jürß:

Bei vielen Wegen, die ich gegangen bin oder die auch der Bio-Landbau gegangen ist, habe ich das Gefühl, die bringen uns nicht weiter. Ich bin ja auch durchaus gesellschaftlich interessiert und frage mich, wie kriegen wir das Schiff denn wieder flott? Oder wie kriegen wir das Leben für die Menschen lebenswert oder lebenswerter? Und welche Wege sollten wir gehen und welche nicht gehen? Und ich glaube zum Beispiel auch daran, dass die Entscheidungen, die wir mit unserem Geld treffen, mehr Einfluss haben als Entscheidungen, die wir politisch treffen. Und von daher fand ich eigentlich so diesen Ansatz der Gemeinschaft, dass es viele Produzierende gibt, die auf dem Markt unterwegs sind, interessant. Also ich glaube, dass über Grenzen denken und solidarisch sein, entscheidend ist. Also auch über den eigenen Schatten springen, in den Schuhen anderer gehen. Ich glaube, dass das wahnsinnig wichtig ist. Und das ist ja zum Beispiel was, was auch die Gemeinschaft über den „EssKulturWandel" anbietet.

Sebastian H. Schroeder:

Und da war er wieder. Der „EssKulturWandel", von dem mir Sabine auf dem Markt berichtet hatte.

Julia Klink:

Also, der „EssKulturWandel" ist ein Weiterbildungsprogramm, was vor allem praxisorientiert und branchenübergreifend ist. Das heißt, unser Ziel ist, wirklich entlang der gesamten Lebensmittelwertschöpfungskette Themen aufzunehmen und Einblicke und wirkliche Kontakte herzustellen oder zu ermöglichen. Das heißt, wir haben meistens eine Gruppe zwischen 15 und 20 jungen Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen. Also wir haben dort Bäcker*innen, wir haben Winzer*innen, wir haben Leute aus der Gastronomie, wir haben aber auch Personen aus der Landwirtschaft oder Personen aus dem Handel. Und alleine dieses Konglomerat an unterschiedlichen Perspektiven ist einfach schon wahnsinnig bereichernd. Das heißt, die Gruppe an sich kann sich schon eigentlich total viel erzählen.

Sebastian H. Schroeder:

Und diese Personen haben dann die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit in andere Betriebe reinzuschnuppern, sich auszutauschen und gemeinschaftlich in Workshops neue gemeinsame Wege zu finden, um die Arbeit, die ganz irgendwann einmal idealistisch begonnen hat, auch realistisch umsetzen zu können.

Auch Bernd Ratjen, der Wirt aus dem Landgasthof aus Folge 2 von Foodsteps, ist Mitglied bei der Gemeinschaft, wie ich erst nach meinem Besuch dort erfahren habe. Und auch für Sabine hat der Besuch der jungen Menschen bei ihr auf dem Hof spürbar etwas hinterlassen.

Sabine Jürß:

Beim „EssKulturWandel" sind verschiedene Frauen bei mir auf dem Betrieb gewesen. Und das hat mir einfach einen Blick auf diese Generation gegeben, den ich sonst so nicht gehabt hätte. Dass diese Frauen neue Strukturen für sich suchen, zu leben, zu arbeiten, Frau zu sein, in dem, wie sie arbeiten. Und dass die eine eigene Art haben, zu suchen und sich in ihren Bedingungen zurechtzufinden.

Aber was ich da spüre, bei allen, ist was Ähnliches, was ich auf dem Trecker auch gespürt habe, als ich den Tag durchgehalten habe. Also, dass in dem, wie man lebt und arbeitet, man Befriedigung sucht. Also wirklich eine Befriedigung. Und das finde ich einen Super-Motor. Zu gucken, was treibt dich an, was bewegt dich, wofür brennst du? Und ich brenne gerne für was. Also ich habe gerne auch eine Leidenschaft. Ich bin gerne neugierig und lebendig. Und ich glaube, dass das ganz viele Menschen sind. Und ich glaube auch, dass so, wie wir Kinder aufziehen oder ein Schulsystem nicht unbedingt dafür gemacht ist, dass sowas sich entwickelt. Ich glaube, wir lassen ganz viel Potenzial liegen.

Und ich glaube aber auch, dass es ein Weg ist, also dass wir nicht unbedingt immer nur denken müssen, wir haben irgendwas Fertiges, konzeptfertig geschrieben, sondern ich spüre da ganz viel Bewegung. Also, dass man immer wieder sich